Das hat etwas von Liebe
Meine Nichte Lena, fast 13 Jahre alt, hat eine neue Angewohnheit. Und zwar eine schöne. Wenn jemand sie ärgert, macht sie es nicht genauso. Sie macht etwas anderes. Sie sagt: Ich hab dich auch lieb. Wenn ich mich über sie lustig mache, macht sie sich nicht gleich über mich lustig, sondern sagt einfach: Ich liebe dich auch. Eine tolle Idee. Einfach nicht wehren wie früher: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nicht einfach Gleiches mit Gleichem vergelten. Das kann jeder und wäre zu billig. Stattdessen hat sie sich angewöhnt, freundlich zu antworten, auch wenn ihr der Sinn vielleicht gar nicht danach steht. Sie sagt dem, der sie ärgert, einfach etwas Schönes: Ich hab dich auch lieb.
Das hat etwas von Liebe. Ein frischer Geist wie damals an Pfingsten. Nicht einfach Worte und Taten der anderen nehmen und heimzahlen, sondern Besseres finden. Etwas von Liebe. Das ist große Kunst, Lebenskunst. Schwer, aber hilfreich. Und wertvoller als Heimzahlen. Als einmal ein paar Männer und Frauen neben Jesus stehen und ihn fragen, was man denn am besten mit Ärger und Wut über andere machen soll, hat der geantwortet: Wenn dir einer deine Jacke wegnehmen will, gibt ihm einfach noch den Mantel dazu. Und wenn dir jemand einen Euro wegnehmen will, gib ihm einfach zwei (Neues Testament, Matthäusevangelium Kapitel 6, Verse 40-41). Tu einfach so, als würdest du sagen: Ich hab dich auch lieb. Das klingt unvernünftig. Ist es aber nicht. Es ist höhere Vernunft. Wer Ärger mit Ärger bekämpft, schafft nur noch mehr Ärger. Wer Ärger mit etwas von Liebe bekämpft, kann wenigstens hoffen. Hoffen, dass Ärger oder Spott bald aufhören. Vielleicht nicht heute, aber nächste Woche oder nächsten Monat.
Es gibt nur wenige Menschen, die sich der Liebe entziehen können. Das wusste Jesus. Vielleicht weiß es auch meine Nichte. Es hat mich beeindruckt, als sie auf meinen Spott hin nur sagte: Ich hab dich auch lieb. Das hat Geist. Und ich war still. Geht doch.