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Eine Sendung von

evangelisch, Frankfurt am Main

Vollmacht

Vollmacht

Ich hörte den beiden Frauen zu. Das ließ sich gar nicht vermeiden. Sie hatten sich zufällig im Wartezimmer beim Arzt getroffen, und sie freuten sich über die Begegnung. Sie hatten sich wohl lange nicht gesehen. Und so blieb es nicht aus, dass sie sich ganz schnell alle ihre besonderen Nöte anvertrauten.

Und wenn sie auch ihre Stimmen senkten, ich konnte es hören: es ging wieder mal um das Geld, um das gesparte Geld, von dem sie nicht wussten, wem sie es anvertrauen könnten.

Das Problem für beide war die Forderung, den Kindern und Schwiegerkindern Vollmacht zu erteilen. "Vollmacht" – das forderten die Kinder mit den Worten: "Mutter, wenn dir etwas passiert, dann haben wir gar keine Möglichkeit, dich zu unterstützen. Wir können dir ja nicht mal Geld von der Bank holen, wenn du es nötig brauchst."

Ich habe solche und ähnliche Gespräche in letzter Zeit oft gehört. Meistens klang aus allem ein tiefes Misstrauen gegenüber der nächsten Generation, ein Misstrauen gegen die Jungen und noch Mal verstärkt gegen die Schwiegertochter oder den Schwiegersohn.

Ich weiß den Grund dafür nicht, aber ich will von meiner eigenen guten Erfahrung berichten. Mein Vater war ein außerordentlich korrekter Mann, der allerdings weder seiner Frau noch seinen Kindern anvertraute, wie viel Geld er verdiente, und was er damit anstellte.

Aber als er alt wurde und daran denken musste, dass er hilflos auf andere angewiesen sein würde, besprach er mit mir alle Details seines Einkommens und seines Ersparten. Er erteilte mir die von mir gar nicht geforderte oder gewünschte Vollmacht, weil er es für richtig hielt, und weil er mir zeigen wollte, dass er mir vertraut. Für mich war das ein beeindruckendes Erlebnis, und ich habe in seinen letzten Lebensjahren sein Geld in seinem Sinne verwaltet.

Ob das nicht auch die meisten, ja die allermeisten Kinder, für ihre Eltern, ihre alleinstehende Mutter, ihren Vater tun würden?

Ich habe es erlebt: Gegenseitiges Vertrauen ist eine gute Basis. Misstrauen aber birgt in sich schon das Scheitern.