Selbst-Mitgefühls-Pause
Sprecherin: Ingrid El Sigai
Ich kann mich manchmal so richtig aufregen. "Ich habe aber ein Recht darauf! Die Anderen, die kriegen es hinterhergeschmissen, während ich mir alles erkämpfen muss!"
Meine Empörung sitzt tief. Die Themen können variieren. An meiner Empörung ändert sich wenig, gleich, ob ich als Kassenpatientin notwendige Behandlungen nur bekomme, wenn ich sie selbst zahle.
Oder ob mich auf der Autobahn andere Fahrer rechts überholen, obwohl ich mich ans Tempolimit halte. Dann kann ich mich so richtig aufregen. Neudeutsch heißt das "Empörungskultur".
Empörung kann Energie freisetzen...
Manchmal ist Empörung hilfreich: Wer sich aufregt, hat Energie und kann etwas bewirken. Die Empörung im Sommer beispielsweise, dass Kinder bei den Impfangeboten nicht berücksichtigt werden, hat gewirkt. Sie hat für Aufmerksamkeit gesorgt und für Änderungen.
...oder destruktiv sein
Es gibt aber auch die Empörung, die destruktiv ist und mich sinnlos durch die Decke gehen lässt.
Mein Verlobter hat dann so Sätze, die bringen mich wieder runter: "Ja, das ist echt Mist! Das sollte so nicht sein. Das teilst du mit vielen, denen es schlecht geht. Möge dir stattdessen ab sofort Gutes widerfahren!"
Sätze, die meine Empörung erden
Für mich sind diese Sätze wie eine warme Dusche. Sie setzen bei meinem Gefühl an – dass mir Schlimmes widerfährt, dass ich es so gerne anders hätte.
Aber sie schaukeln meine Empörung nicht weiter nach oben. Sie helfen mir, mich einzusortieren: Anderen passiert das auch.
Und diese Sätze drücken aus, was ich eigentlich brauche: Unterstützung, die Zuversicht, dass es auch wieder anders werden wird. "Möge dir stattdessen ab sofort Gutes widerfahren!"
Trick, wie ich mir selbst helfen kann
Nicht immer sind solche Freunde mit diesen wohltuenden Sätzen direkt da, wenn ich sie brauche. Ich mache dann eine Selbst-Mitgefühls-Pause. Ich unterbreche meine Empörung und gehe dem nach, was in der Empörung steckt, was ich jetzt brauche: Mitgefühl, mit mir selbst, und das Gefühl, damit nicht allein zu sein und dass es wieder anders wird.
Ich habe das zuerst für Schwäche gehalten: Mitgefühl braucht nur, wer nicht stark genug ist. Aber mir ist klargeworden: Mitgefühl braucht Kraft. Auch das Mitgefühl mit mir selbst. Es ist anstrengend, meine Empörung zu unterbrechen und mich meiner Wut entgegenzustellen.
Ich bin meinen Gefühlen nicht hilflos ausgesetzt
Meine Selbst-Mitgefühls-Pause besteht aus wenigen Sätzen. Erstens: "Das ist echt Mist! Wie mies, dass ich so etwas ertragen muss." Zweitens mache ich mir klar: Anderen geht es auch so. Darum der Satz: "Das teile ich mit vielen, denen es schlecht geht." Drittens setze ich statt Empörung eine gute Aussicht, einen Wunsch: "Möge mir und uns, denen es so geht, stattdessen Gutes widerfahren!"
Klar wirkt das stärker, wenn mein Verlobter das zu mir sagt oder ein anderer Mensch, der es gut mit mir meint. Aber immerhin: Auch allein bin ich meiner Empörung nicht hilflos ausgeliefert. Ich kann etwas tun. Damit ich und die Menschen um mich herum nicht in einer Empörungskultur enden, sondern zu einer Kultur des Mitgefühls finden.