hr2 ZUSPRUCH
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Häbel, Dr. Ulf

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

Zeit heilt, Zeit zerstört

Zeit heilt, Zeit zerstört

„Zeit heilt und Zeit zerstört “ Diese Worte stehen an einem alten Fachwerkhaus in Gelnhausen. Und noch ein Satz: “Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann“. Vor Jahren habe ich das gelesen und nicht vergessen. Zeit heilt -  Ja, das stimmt. Mit der Zeit lässt der Schmerz nach, sagen die Leute, wenn das Schicksal Wunden zugefügt hat, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist oder eine gute Freundschaft zerbricht. Zeit heilt, das meint: Aus den schmerzhaften Wunden wird allmählich eine verheilte Narbe. Zeit heilt!

Aber wie ist das zu verstehen: Zeit zerstört? Anscheinend gibt es auch Ereignisse, die nicht einfach verheilen. Da bleiben die Verletzungen, die Schmerzen, die Traurigkeit. Vor achtundsechzig Jahren, im Januar 1945, musste meine Familie ihre Heimat verlassen. Durch den elenden Krieg bedingt mussten wir vor der sowjetischen roten Armee auf die Flucht gehen. Ich war zweieinhalb Jahre alt und kann mich nicht mehr erinnern. Aber meine Mutter. Sie hat, solange sie lebte, von diesen Tagen der Flucht auf dem Pferdeschlitten im erbarmungslos eisigen Winter erzählt. Diese Zeit hat viel zerstört. Lebenslang hat meine Mutter schmerzlich von der alten Heimat geredet. Es ist und bleibt die Menschenwürde verletzt, wenn man Menschen davon treibt. Daran ändert auch die Zeit nichts, die verflossen ist. Vor allem schmerzt, dass es bis heute so geblieben ist. Menschen sind auf der Flucht vor den Mächtigen und deren militärischer Gewalt - in Syrien, in Afrika, im Irak, in Afghanistan.

Wie ist es mit dem zweiten Spruch auf dem Gelnhäuser Fachwerkhaus:  „Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann“? Wir Menschen sind, soweit wir wissen, die einzigen Wesen auf dieser Erde, welche die Fähigkeit der Erinnerung haben. Wir können etwas längst Vergangenes im Gedächtnis behalten, ob einen glücklichen Tag wie die Hochzeit, der etwas Schlimmes wie eine überstandene Flucht. Erinnerung heißt: Wir nehmen etwas  ins Innere, ins Gedächtnis, ins Herz, in die Seele. In uns lebt etwas weiter. Die erfüllten Augenblicke im Leben, kann niemand nehmen. Die Zeit, die ich mit meiner längst verstorbenen Mutter und den anderen in der Familie als erfüllte Tage erlebt habe, kann mir niemand rauben.

Zeit heilt; Zeit verletzt – und die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann. Diese Worte hat der Baumeister vor vierhundert Jahren nicht an das Fachwerkhaus gemalt, nur, weil er ein bisschen schmücken wollte. Es war eine Lebenserfahrung, die er weiter gesagt hat: Vom bleibenden Wort des Lebens und von dem Glück, das in einer lebendigen Erinnerung liegt. In der Bibel wird das so ausgedrückt: Gott spricht einem Menschen zu: Ich werde Deinen Namen in mein Gedächtnis schreiben. Ich behalte Dich in meiner Erinnerung. Ins Buch des Lebens bist Du geschrieben. Das löscht niemand aus.