Welche Leute wohnen im Dorf der Zukunft?
Siebenhundert Jahre alt ist das Dorf im Vogelsberg, in dem ich lebe. Dieses Ereignis wurde natürlich gefeiert mit Theaterspiel und Festzug, Straßenfest und Musik. Wir haben eine Festschrift geschrieben: Siebenhundert Jahre Freienseen. Damit kann man etwas über die Geschichte nachlesen, wie die Menschen früher hier gelebt haben und welche besondere Höhe- oder Tiefpunkte es gab. Vor zweihundert Jahren haben die meisten Familien von der Leinenweberei gelebt. In fast jedem Bauernhaus stand ein Webstuhl, auf dem mit den Händen feines Leinen für Kleidung und grobes Tuch für Getreidesäcke hergestellt wurde. Als der mechanische Webstuhl erfunden wurde, brach das Handwerk der Leinenweberei hier zusammen. Die Menschen litten Not. Manche suchten sich eine andere Arbeit in der Landwirtschaft oder beim Handwerk. Viele wanderten aus, nach Amerika oder Russland, manche nach Paris oder London. In wenigen Jahren waren vierzig Prozent aller Einwohner weg.
In der Festschrift werden die elenden Zeiten der Kriege beschrieben, die Schrecken der Nazidiktatur, das Auf und Ab der Vereine. Als wir die Festschrift fast fertig hatten, fiel mir auf: Sie enthält nur Rückblicke. Es fehlte der Blick nach vorne. Wie werden die Menschen zukünftig hier leben? Was wird aus dem Dorf, wenn immer mehr Leute in die Städte ziehen und nur die Alten zurückbleiben? Haben wir hier eine Zukunft?
Viele bezweifeln es. Ich habe dann die Kinder in unserer Schule gefragt, so eine kleine Zukunftswerkstatt haben wir gemacht. Manche Kinder meinten: Das Dorf würde vielleicht noch einmal größer, Leute würden Häuser bauen und ins Dorf ziehen. In ihren Zukunftsbildern war städtischer Komfort zu sehen: Schwimmbad und Kino, Supermarkt und Disco. Andere waren anderer Meinung: Das Dorf kleiner, ärmer und älter. Ich habe die Kinder auch gefragt: „Wenn Ihr Leute für das Leben hier einladen könntet, wie sollten die Leute sein?“ Die Antworten kam schnell: Die Menschen sollen sagen, was sie denken und zu sich selber stehen. Und sie sollen freundlich zueinander sein.
Mich hat gefreut und überrascht, was für Antworten die Acht- und Neunjährigen gefunden hatten. Jeder Mensch soll zu sich selber stehen, jeder und jede selbstbewusst sein, aufrichtig, gerade. Jeder soll auch die Anderen sehen. Die Menschen sollen freundlich miteinander umgehen, sich gegenseitig wahrnehmen und wertschätzen. In den Zukunftsbildern der Kinder sah ich die alte, christliche Vision: Liebe Deinen Nächsten und Dich selbst. Steh zu Dir selber und sei freundlich zu den Anderen. Dann wird euch das Leben gemeinsam gelingen und im Dorf eine gute, menschliche Gemeinschaft sein. Auch in Zukunft.