hr2 ZUSPRUCH
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von Winterfeld, Charlotte

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Weite des Herzens

Weite des Herzens

Herr Schmidt hat Geburtstag. Ich besuche ihn zu seinem Festtag. 90 Jahre wird er alt. Im 4. Stock in der kleinen Wohnung ist es gemütlich. Aus dem Fenster kann ich über den Stadtteil sehen, es gibt viele Hochhäuser. Seine Frau kocht gerade Kaffee. „Früher haben wir hier alle gekannt, alles Kollegen von der Bahn oder von der Hoechst AG. Wir waren jung und hatten alle Kinder“, erzählt Herr Schmidt. Was er erzählt, kenne ich von vielen Besuchen im Süden von Frankfurt-Nied. Es schwingt immer etwas Sehnsucht nach der guten alten Zeit mit. Frau Schmidt ergänzt: „Viele Freunde sind weggezogen. Viele, die neu kommen, sind Menschen aus anderen Ländern. Die sind einfach anders. Da bekommt man nicht immer einen guten Draht.“

Während die Schmidts erzählen, denke ich, dass fremde Menschen und fremde Sitten nicht immer einfach sind für ältere Menschen. Aber in Frankfurt begegnet man ihnen automatisch: Frauen mit Kopftuch, große Familien, andere Lautstärke. Manche ältere Menschen ziehen sich zurück oder grenzen sich ab. Da habe ich die Schmidts aber unterschätzt. Herr Schmidt erzählt: „Auf die Buluts lassen wir nichts kommen. Das ist die türkische Familie ganz unten. Wenn die etwas Besonderes kochen, dann stellen sie uns einen Topf vor die Tür. Und die beiden Kinder kommen hier jeden Nachmittag nach oben, und wir helfen ihnen bei den Hausaufgaben. Gestern habe ich mit dem Jungen die Artikel geübt: das Sofa, die Tür, der Hund.“ Frau Schmidt ergänzt: „Außerdem haben die beiden hier auch viel mehr Ruhe und Platz. Und das Lesen mit der richtigen Aussprache, das können sie von ihren Eltern nicht lernen. Aber wir können da gut helfen.“

Die Buluts machen auch mal Einkäufe für die Schmidts und tragen sie dann hoch. Das funktioniert im Alter nicht mehr so wie früher. Sie haben Frau Schmidt schon manchmal zum Arzt gefahren. Heute nach dem Kaffeetrinken zum Geburtstag wird Frau Schmidt eine große Kuchenplatte nach unten bringen. Schmidts haben noch nie einen türkischen Döner gegessen oder türkische Musik gehört, aber die türkische rote Linsensuppe von Buluts, die kennen sie gut.

Die Buluts und die Schmidts, sie haben einen Draht zueinander gefunden. Das zeigt eine Weite des Herzens und des Denkens auf beiden Seiten. Ungewöhnlich und bewundernswert, finde ich. „Wieso?“, fragt Herr Schmidt. „Die anderen sind doch Menschen genau wie wir. Gott hat uns natürlich unterschiedlich geschaffen, wir sind in unterschiedliche Kulturen hineingeboren. Das hat sich niemand ausgesucht. Aber wir müssen ja nicht alles genau gleich machen, um uns gegenseitig zu mögen. Wäre ja auch langweilig.“ Von dieser Weite des Herzens und Denkens der alten Schmidts möchte ich mir etwas abgucken. Im Alter nicht engstirnig werden, das ist ein Ziel. Aber ich möchte heute schon anfangen. Ich möchte niemanden darauf reduzieren, dass er oder sie anders ist als ich. Ich möchte mich überraschen lassen und etwas lernen von den Menschen, die mir begegnen, und zwar von ALLEN Menschen.