hr2 ZUSPRUCH
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Eine Sendung von

Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Weidenröschen

Weidenröschen

Der erste Oktober war in diesem Jahr noch mal ein strahlender Herbsttag. Ich war auf meinem Lieblingsweg im Hinter-Taunus unterwegs. Rechts der weite Blick über die sanfte Hügellandschaft, links ansteigend der Berg. Davor ein Graben, der einer grünen Welt den Boden liefert: Heckenrosen, wilde Kirschen, Weißdorn, Weidenröschen – und jedes blüht zu einer anderen Zeit. Seit August waren es vor allem die Weidenröschen gewesen, die mit ihren Trauben aus kleinen lilafarbenen Blüten über dunkelgrünem Blattwerk einen eleganten Farbakzent gesetzt hatten.

Doch wo war er geblieben, an diesem sonnigen Herbstmorgen? Meine Weidenröschen waren über Nacht ergraut und sahen nicht mehr elegant, sondern geradezu verwegen aus. Kaum wieder zu erkennen. Da gab es welche,  die hatten oben noch ein paar Blüten, dann einen  Strahlenkranz aus fingerlangen, ganz schmalen  Fruchtschoten, darunter ein wildes Gewirr leerer Schoten, die sich wie harte, dünne Locken um den Stängel rankten. Und schließlich diese wattigen Perücken aus feinsten Samenhaaren, die sich nun ganz schnell um mich herum ausbreiteten – die Pflanze war nicht einfach verwelkt, nein, sie hatte sich aufs Verblüffendste verwandelt.

Das ist, dachte ich, eine Pflanze, die als Sinnbild für das Alter taugt! Das ist ja auch nicht einfach eine Fortsetzung des bisher Gewohnten. Es verändert   unsere Weltsicht und Erscheinungsweise, und die bekommt häufig auch etwas Verwegenes, etwas sperrig Unangepasstes. Es ist ein großer Verwandlungsprozess, in dessen Verlauf noch viele Überraschungen möglich sind. Für die biblische Sarah zum Beispiel, die in hohem Alter noch schwanger wird und endlich den ersehnten Sohn gebiert, war das auch eine Überraschung!

Ich lese das nicht als biologisches Wunder, sondern als eine symbolische Geschichte, von den Möglichkeiten der Fruchtbarkeit im Alter. Bach schrieb die „Kunst der Fuge“ in seinen letzten Lebensjahren und ist über der letzten Fuge verstorben. Fontane war achtzig, als er „Effi Briest“ schrieb, seinen berühmtesten Roman. Picasso malte seine radikalsten Frauenbilder als Greis. Doch auch wenn wir außerhalb der kulturellen Hochleistungen um uns blicken:

Den Mut der Alten, sich in neuen Zusammenhängen zu erproben, können wir überall beobachten. Die kinderlose Sekretärin hilft mit Siebzig im Betriebskindergarten aus. Der Steuerberater fängt an zu malen. Die Pfarrerin schließt sich einer Tanzgruppe an, der 80jährige Ingenieur einem Tai-Chi Meister. Die PR-Frau lässt sich in Sterbebegleitung ausbilden und Pina Bausch, eine Ikone des deutschen Tanztheaters, hat ihre ausdrucksvollsten Inszenierungen mit alten Menschen gemacht, Männern und Frauen aus Wuppertal, die nie eine tänzerische Ausbildung hatten.  Aber sich in Bewegung bringen ließen. Und darauf kommt es an. Nicht müde werden also. In Bewegung bleiben. Verwandlung zulassen. Auf Überraschungen gefasst sein.