Von den Bibeln
Heute ist Reformationstag, und egal wie man zu Martin Luther stehen mag: seine Leistung als Übersetzer der Bibel in verständliches Deutsch ist unbestritten. Seit dem 16. Jahrhundert durchzog das Luther-Deutsch wie ein einigendes Band die zersplitterten deutschen Länder und hatte entscheidenden Anteil an der Ausbildung der deutschen Hochsprache.
Noch vor 50 Jahren fand sich eine Bibel in nahezu jedem evangelischen Haus. Sie war das selbstverständliche Geschenk an jeden Konfirmanden. Das ist längst nicht mehr so. Wozu auch, werden die Jüngeren sagen: ein Klick im Internet und ich kann mir über die Homepage der Deutschen Bibelgesellschaft alle relevanten Bibelübersetzungen auf den Bildschirm holen. Die Bibel als E-Book. Was diese Möglichkeit auch für die Älteren attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sich das Schriftbild nahezu beliebig vergrößern lässt.
Das kann ich von den Bibeln in meinem Bücherschrank nun wahrlich nicht sagen. Fünf sind es und die älteste stammt aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dünndruck, Goldschnitt, ledergebunden. Revidierte Lutherübersetzung von 1912. Das Schriftbild ist Gotische Fraktur, die wichtigsten Bibelstellen sind fett gedruckt. Eine Praxis des deutschen Pietismus, der auf gelenktes Lesen setzte und so die Bibel zu einer Sammlung Goldener Worte verdichtete. Meine anderen vier Bibeln, alle aus den letzten 30 Jahren, haben sich von dieser Bevormundung verabschiedet. Sie lassen mir die Freiheit, selbst zu entscheiden, woran ich hängen bleibe.
Und dennoch ist die Bibel mit dem Fettdruck meine Lieblingsbibel. Als Übersetzung ist sie nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Dafür aber sieht man ihr an, dass Menschen mit ihr gelebt haben. Meine Mutter war in ihr zuhause. Mein Vater, ein Lehrer, hat sich mit ihr auf den Religionsunterricht vorbereitet. Wenn ich seine Unterstreichungen sehe, höre ich ihn reden.
Mit den anderen Bibeln, die sich im Lauf der Zeit bei mir einfanden, verbindet mich eine solche Nähe nicht. Es sind Geschenke, meist von mir befreundeten Pfarrern, und somit ein diskreter Hinweis darauf, dass ein bisschen Auffrischung meines geistlichen Haushalts mir gut tun könnte.
Als jüngster Neuzugang kam auf diese Weise die Bibel in Gerechter Sprache in mein Haus. Über 2000 Seiten dick, gelehrt und provozierend zugleich, weil sie im Namen der Gerechtigkeit all die Schubladen öffnet, die die andern Übersetzer, Luther mit eingeschlossen, aus mannigfachen Gründen geschlossen hielten. Übersetzen heißt eben immer auch interpretieren. Und hinter jeder Interpretation steht ein Weltbild, steht eine Theologie, stehen Deutungshoheiten.
Zu solchen Überlegungen einzuladen, wäre den Herausgebern der alten Familienbibel nie eingefallen. Für sie waren an die Bibel keine Fragen zu stellen. „Das Evangelium ist so klar,“ meinten sie mit Luther, „dass es nicht viel Auslegens bedarf, sondern es will nur wohl betrachtet, angesehen und tief zu Herzen genommen sein“.
Ein schönes Bild, die Bibel mit dem Herzen zu lesen. Glücklich der, dem das geschenkt ist. Wenn ich sie lese, habe ich den Kopf voll Fragen. Glaube ich was ich lese? Und wenn nein, warum lese ich es dann? Vielleicht weil ich Gott nur im Zweifel umkreisen kann. Im dem, was wir Glauben nennen, steckt mir oft zu viel Selbstsicherheit. Weil sich die Bibel in all ihrer Widersprüchlichkeit nicht in Besitz nehmen lässt, darum lässt sie mich nicht los.