Vom Umgang mit den wilden Kerlen
„Du wilder Kerl!“, schimpft die Mutter und der kleine Max muss ohne Essen ins Bett. Was zu Anfang aussieht wie eine harte Strafe, ist der Beginn eines großen Abenteuers. Denn hätte die Mutter Max nicht auf sein Zimmer geschickt, hätte er verpasst, dass darin ein Wald wächst. Er hätte niemals das Boot gefunden und wäre wohl kaum der König der Wilden Kerle geworden.
Der US-amerikanische Illustrator und Kinderbuchautor Maurice Sendak erzählt die Geschichte von Max in seinem Buch „Wo die Wilden Kerle wohnen“. Vor fünfzig Jahren ist es das erste Mal erschienen. Und heute wäre Sendak fünfundachtzig Jahre alt geworden.
Mir hilft das Buch beim Umgang mit den wilden Kerlen in meinem Leben: meinen Söhnen zu allererst, aber auch mit anderen Zeitgenossen, die laut und frech meinen Lebensweg kreuzen. Und nicht zu vergessen, auch bei dem Umgang mit dem wilden Kerl, der in mir selbst wohnt.
Natürlich kann ich die nicht alle ohne Essen ins Bett schicken, auch wenn mir manchmal danach ist. Aber Maurice Sendaks Buch hilft mir, die wilden Kerle anzunehmen in ihrer Wildheit. Denn er verurteilt ihre Wildheit nicht moralisch. Er spricht ihr ein Recht zu. Sie bekommt einen eigenen Ort: Das Land, wo die wilden Kerle wohnen. Dort haben die wilden Kerle Platz und alle Zeit der Welt, um Krach zu machen und frech zu sein, um zu toben und Unsinn zu treiben.
Ich finde, darin steckt viel Weisheit. Aggressionen gehören zu uns Menschen. Jeder trägt sie in sich. Wir können versuchen, sie zu unterdrücken, aber die Erfahrung zeigt: Sie suchen sich dann einen eigenen Weg und kommen oft zu Unzeiten wieder ans Licht. Aggressionen zu verbieten macht sie nur noch größer und unberechenbarer. Besser ist es, wenn ich lerne damit umzugehen und das auch meinen Kindern zeige.
Eine Art, wie das gehen kann, zeigt Maurice Sendak in seinem Buch. Er gibt den Aggressionen einen Ort und damit ja auch Grenzen. Jeder müsste die Möglichkeit haben ab und zu ins Land der Wilden Kerle zu fahren. Jeder sollte einen Ort haben, an dem er mal so richtig toben kann.
Max darf in seinem Zimmer wüten. Da kann er nicht viel kaputtmachen und auch niemanden verletzen. Meine Söhnen machen zum Beispiel Kissenschlachten. Mir selbst hilft es, alleine in einen Raum zu gehen und laut alle Schimpfworte zu sagen, die ich kenne und sonst niemals benutzen würde.
Das Land der wilden Kerle kann überall sein und was wir dort treiben bleibt unserer Phantasie überlassen. Es gibt nur zwei Regeln: Kräftemessen geht nur mit anderen Wilden Kerlen und niemand darf ernstlich verletzt werden. An einem solchen Ort wäre ich auch gerne Königin über alle wilden Kerle so wie Max es war.
Übrigens, am Ende bekommt Max auch noch ein Abendessen, denn er findet seinen Weg zurück, weil er sich dann doch nach jemandem sehnt, der ihn am allerliebsten hat. Auch die wildesten Kerle brauchen Liebe.