Vertrauen verspielt
Als der SPD-Politiker Frank Walter Steinmeier im August 2010 für ein paar Wochen eine Auszeit nahm, um seiner seit Jahren am Dialysegerät hängenden Frau eine seiner gesunden Nieren zu spenden, waren die Anteilnahme und der Respekt vor dieser Entscheidung groß. Was wenige wussten: Frank Walter Steinmeier hatte sich schon immer für die Organspende engagiert. Er hatte Vertrauen nicht nur in das Können, sondern auch in das Verantwortungsbewusstsein der Transplantationsmediziner. Ihr Können hat ihn damals nicht enttäuscht. Doch das Vertrauen ist inzwischen auch bei Frank Walter Steinmeier nachhaltig erschüttert worden.
Manipulationen an Patientendaten mit dem Ziel, bestimmte Patienten auf der Warteliste nach oben zu befördern, sind an deutschen Transplantationszentren längst kein Einzelfall mehr. Auch der Zeitpunkt der Organ-Entnahme gerät zunehmend unter Druck: ist der Sterbeprozess dann schon wirklich abgeschlossen? Und die Entwicklung, die der - bei uns verbotene - Handel mit Organen weltweit genommen hat, wirft grundsätzliche ethische Fragen auf. Die Armen als Organlieferanten der Reichen: soll das die Zukunft sein?
All das schoss mir durch den Kopf, als ich neulich zusammen mit meiner Tochter bei einer Notarin saß, um eine sogenannte Vorsorgevollmacht mit Patientenverfügung zu erstellen. Und dann kam sie: die Frage nach der Bereitschaft zur Organentnahme nach Feststellung meines Todes. Ich wusste, was damit gemeint ist: der Hirntod, der irreversible Ausfall unseres zentralen, Identität stiftenden Steuerungszentrums.
Der Hirntod ist für die Transplantationsmediziner der letzte Zeitpunkt, an dem sie handeln können. Denn noch lassen sich Atem und Kreislauf über entsprechende Geräte aufrecht erhalten und darauf kommt es an. Die Transplantationsmedizin braucht die Organe aus dem noch lebenden Körper, der einem nicht mehr lebenden Menschen gehört. So paradox ist die Situation.
Die Notarin schaut mich an, ich schaue meine Tochter an - und sage „nein“. Nein, ich bin nicht bereit, mich als Organspenderin eintragen zu lassen. Ausnahme: die Empfänger wären enge Angehörige. Doch zugunsten der Transplantationsmedizin einen Blankoscheck auszustellen – das kann ich nicht. Meine Krankenkasse hat dieselbe Antwort erhalten.
Gut fühle ich mich mit dieser Entscheidung nicht. Ich weiß, wie viel Kranke auf Spenderorgane warten, und die Kirchen haben die Organspende als letzten Akt der Nächstenliebe ja auch ausdrücklich befürwortet. Aber die einfachen Antworten sind brüchig geworden. Die Transplantationsmedizin hat uns in ein fast unauflösbares ethisches Dilemma hinein manövriert. So Leben rettend sie für den Einzelnen sein kann: Der Mensch als Ersatzteillager des Menschen - dem sind wir nicht gewachsen.
Müssen nicht Dialysepatienten, die verzweifelt auf eine neue Niere hoffen, geradezu um Unfälle beten? Ich weiß nicht, wie man mit diesen Todeswünschen lebt. Ich weiß auch nicht, wie man an einem Sterbebett Abschied nimmt, wenn es auf schnellstem Wege herausgerollt wird, um mit der Organentnahme beginnen zu können. Ich weiß nur, wie wichtig es für uns Geschwister war, dass wir am Bett der toten Mutter noch fast eine Stunde schweigend und dankbar zusammengesessen haben.
Die Transplantationsmedizin ist nicht die Lösung. Sie ist das Problem. Und wenn die gegenwärtige Diskussion ein Gutes hat, dann das, dass wir uns den damit verbundenen Fragen neu stellen müssen. Es geht nicht nur um „Nächstenliebe“. Es geht auch um Würde und um Respekt vor dem Tod und vor dem Netz des Lebens, das ihn umgibt.