Spuren des Lebens
Ich begleite viele Menschen bei ihrer Trauer und führe dazu eine Menge Gespräche. Dafür habe ich mir jetzt ein Zimmer eingerichtet. Es ist ein kleiner Raum im Dachgeschoss eines knapp hundert Jahre alten Hauses. Der Raum hatte einen alten Teppichboden und eine Raufasertapete, die ziemlich lose war. Das war nicht die Atmosphäre, in der ich Menschen empfangen wollte. Ich dachte mir, in diesem Raum sollte man auch die Wertschätzung spüren, die ich meinem Gegenüber entgegenbringen möchte.
Handwerker entfernten den Teppich und verlegten einen Korkboden. Ich habe wenig Erfahrung im Renovieren, aber der Vermieter machte mir Mut, mich bei den Wänden selbst ans Werk zu machen und er lieh mir ein Gerät zum Tapetenablösen. Ich war erschrocken, was zum Vorschein kam. Die Kanten und Ecken waren bröckelig, es gab viele Risse und tiefe Löcher. Die unterschiedlichsten Farbflächen und Tapetenreste kamen zum Vorschein. Der Raum hatte eben schon viele Jahre gesehen.
Erst mutlos, begab ich mich weiter an die Arbeit. Spachtelte die Risse und Löcher zu, glättete hier und da. Aber es war klar, ebenmäßig wird es nicht. Ich dachte, ich könnte mein Ziel nicht erreichen. Dieser Raum sollte doch schön und angenehm werden. Die sorgfältig verputzten Wände sollten dazu beitragen, dass mein Gesprächspartner sich sicher sein kann, auch mit ihm werde ich behutsam und sorgfältig umgehen.
Während meiner Arbeit beobachtete ich, wie manche Stellen ebenmäßiger wurden. Bei anderen Kanten oder Macken war klar: Es wird besser sein, sie zu akzeptieren. Und dann dachte ich, dass diese Spuren alter Zeiten doch gut zu dem passen, was in diesem Raum stattfinden soll. Menschen kommen in ihrer Trauer. Sie sind auch gezeichnet von den Spuren ihres Lebens. Sie tragen ihre Wunden an sich. Manche sind verheilt und andere haben Narben zurück gelassen. Es passt doch sehr gut, in einem Raum über die Wunden des eigenen Lebens zu sprechen, der ebenfalls Spuren davon getragen hat.
Durch die intensive Arbeit habe ich mein neues Gesprächszimmer richtig ins Herz geschlossen. Der Raum ist zu meinem geworden. Das hätte kein Handwerker für mich erreichen können. Während meiner Arbeit habe ich gemerkt: Es tut mir gut, zu den Wunden meines Lebens zu stehen, die ich vielleicht durch den groben Umgang anderer erworben habe. Das waren keine schönen Erfahrungen. Aber das, was jetzt zu mir gehört, das möchte ich annehmen und akzeptieren. Ich freue mich an dem Schönen, aber das andere, das darf auch da sein. Es ist mein Leben.
Mein Glaube unterstützt diese Lebenseinstellung. Der christliche Gott ist auch einer, der zu seinen Wunden steht. So erzählt es die Geschichte von Jesus Christus. Sein Leben unter den Menschen hat deutliche Spuren an ihm hinterlassen. Das Kreuz erinnert mich daran. Es fordert mich auf, auch zu meinen Verletzungen und Macken zu stehen und zeigt mir, dass ich damit nicht allein bin. Ich habe einen an meiner Seite, der weiß, wie es ist. Er kennt Wunden und beschädigtes Leben. Deshalb bin ich bei ihm in guten Händen.