„So viel du brauchst“ oder „Weniger ist mehr“
„So viel Du brauchst“: Mit diesen drei Worten wirbt für sich der Evangelische Kirchentag, der übermorgen in Hamburg beginnt. Ein Motto, das sich nicht jedermann auf Anhieb erschließt. Es gehört zu einer Aufbruchssituation und findet sich im 2. Buch Mose. Gott verspricht dem Volk Israel, es auf seiner Wüstenwanderung nicht nur zu begleiten sondern auch zu ernähren. Wachteln wird es regnen des Abends und Manna am Morgen. Die Bedingung ist, jeder sammelt nur so viel, wie er oder sie auch essen kann. Wer hortet, dem verdirbt das Eingesammelte. Wenn jeder nur nimmt, was er oder sie zum Leben braucht, kommen alle gemeinsam gut durch die Wüste.
Als ich von dem Motto hörte, waren es nicht die Israeliten, die mir als erstes einfielen, und auch nicht die Urchristen, sondern - die Shaker. Das ist eine in Deutschland fast unbekannt gebliebene amerikanische Sekte, die Ende des 18. Jahrhunderts von einer Frau gegründet wurde und heute nicht mehr existiert. Ich lernte diese Kultur kennen, weil eine Freundin in den USA ein Shaker-Museum geleitet hat. Im Namen Shaker klingt Spott mit an. Er leitet sich ab von den religiösen Schütteltänzen, die zum Gottesdienst der Shaker gehörten.
Doch Designer und Architekten sprechen heute mit höchstem Respekt von diesen Shakern, denn sie haben uns kulturelle Zeugnisse hinterlassen, die staunen machen. Häuser und Einrichtungsgegenstände, Stühle, Schaukelstühle, Tische, Körbe, Besen, Putzeimer, Spinnräder, - und all das in höchster handwerklicher Perfektion, vollkommener Funktionalität und größtmöglicher Einfachheit. Was Mies van der Rohe und die Leute vom Bauhaus um 1920 zum gestalterischen Dogma erhoben – „Weniger ist mehr“ – das wurde schon 100 Jahre vorher und zwar aus religiösen Gründen hier bei den Shakern umgesetzt.
Eine „Religion in Holz“ hat jemand diese Erzeugnisse mal genannt. Eine zutreffende Bezeichnung, denn Shaker-Möbel sind von dem religiösen Fundament dieser klösterlichen Gemeinschaft von Männern und Frauen nicht zu trennen. Friedrich Engels hat die Shaker bewundert, weil sie auf Privateigentum verzichteten. Für das, was sie sonst noch zusammenhielt, hatte er nur das Wort „Religiöse Flausen“ übrig. Knapp 150 Jahre haben diese „Flausen“ die Shaker getragen. Zunächst in strikter Abkehr von der Welt. Die Shaker waren autarke Gemeinschaften und produzierten erst nur für den eigenen Bedarf. Hundert Jahre später standen ihre Möbel dann auf der Weltausstellung. Der Ruhm und die veränderte Auftragslage haben das Ende der Gemeinschaft eingeleitet.
Wachstum hat eben immer zwei Gesichter und „So viel du brauchst“ ist eine schwer zu bestimmende Größe. Was den Evangelischen Kirchentag dazu motiviert, sich dieses Motto zu geben, sind allerdings keine „religiösen Flausen“. Es ist die Flammenschrift an der Wand, die eigentlich niemand mehr übersehen kann: vergiftete Meere, brennende Ölquellen, schmelzende Eisberge, verschmutzte Luft, verstopfte Straßen, ausgelaugte Böden und ein gigantisches Schrott-und Endlagerproblem. Entgrenztes Wirtschaften bei begrenzten Ressourcen, – das kann auf Dauer nicht gut gehen. In offenen Gesellschaften sind Umsteuerungsprozesse nur durch Einsicht möglich. Die möchte der am Mittwoch beginnende Evangelische Kirchentag gern befördern.