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Spory, Dr. Anke

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

Marienkäfer Luca

Marienkäfer Luca

Normalerweise klingeln die Kinder Sturm, wenn sie von der Schule nach Hause kommen. Doch vergangene Woche war das anders. Da hat eines Mittags ganz zaghaft die Türglocke geläutet, die Kinder haben etwas in den Händen getragen, ich habe nur Gräser und Blätter gesehen. Sie haben geflüstert: Wir haben einen Marienkäfer gefunden. Und dann platzte es aus meiner Tochter heraus: Und der hat nur einen Flügel! Der Arme, er kann nicht mehr fliegen. Jetzt haben wir Blätter mit ganz vielen Blattläusen mitgebracht, damit er was zu essen hat.

Beim Mittagessen haben sie diskutiert, ob Marienkäferflügel nachwachsen können - so wie ihre Milchzähne. Sie haben darüber gesprochen, wem sie den Käfer anvertrauen könnten, wenn wir im Urlaub sind. Und dann haben sie erzählt, dass sie den Käfer Luca genannt haben, weil das ein Name für Mädchen und Jungen ist. Am Nachmittag bekam Luca dann einen Käfig aus Pappe, der mit viel Gras ausgepolstert war. Ehrfürchtig setzten sie ihn hinein. Ganz vorsichtig, damit ihm nicht noch ein Unglück zustößt.

Mich hat die Fürsorglichkeit der Kinder gerührt. Wie sie so behutsam darauf geachtet haben, dass es dem verletzten Käfer gut geht, dass er alles hat, was er braucht. Ein kleiner Marienkäfer, an dem ich achtlos vorüber gegangen wäre - die Kinder haben ihn entdeckt. Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören. Dies ist der erste Satz aus Albert Schweitzers Schrift: Die Ehrfurcht vor dem Leben.

Albert Schweitzer ist bekannt geworden als Urwalddoktor. Er hat Theologie und Philosophie studiert und ist dann noch einmal zur Universität gegangen, um sich als Arzt ausbilden zu lassen. 1913, also vor 100 Jahren, ist er nach Lambarene in Afrika gegangen und hat dort ein Krankenhaus gegründet. Ihm war es wichtig, Menschen zu helfen. Gleichzeitig hat er gemerkt: Es reicht nicht, nur darüber nachzudenken, wie Menschen sich anderen Menschen gegenüber verhalten. Es ist genau so wichtig, allem was lebt, ehrfürchtig  zu begegnen, eben auch den Tieren. In den fünfziger Jahren, als Ost und West sich mit ihren Atomwaffen feindlich gegenüberstanden, hat ihn seine Grundüberzeugung zu einem Friedensmahner werden lassen. Nur die Ehrfurcht vor dem Leben, da war er sich sicher, kann zu einer friedlichen Welt führen.

Manchmal machen es uns die Kinder vor, was das heißt: Ehrfürchtig zu sein. Es ist eine besondere Haltung, dem Leben zu begegnen, gerade auch dem verletzlichen Leben. Ein ehrfürchtiger Blick nimmt das wahr, was oft übersehen wird. Er macht sensibel dafür, wo Leben bedroht ist. Wahrscheinlich wird der Marienkäfer sterben, auch das ist eine wichtige Erfahrung für die Kinder. Aber es ist gut, wenn ich ihnen dann aus voller Überzeugung sagen kann. Es war trotzdem sehr gut, dass ihr euch so um ihn gekümmert habt. Leben erhalten und fördern -  um das zu tun, braucht es diesen besonderen Blick, das aufmerksame Durch-die-Welt-gehen.

Albert Schweitzer beendet seinen Text mit einem Aufruf: „So sage ich euch, lasst euch nicht abstumpfen, bleibt wach!“ Abends fragt mich meine Tochter: Dürfen wir den Marienkäfer abends mit rein nehmen und ihn morgens wieder rausstellen? Ja, klar, sage ich. Ich habe Luca längst in mein Herz geschlossen.