Loslassen oder Weitergeben
Irgendwann kommt die Zeit, da häufen sich die Abschiede. Zunächst die Abschiede von der Arbeitswelt. Der Kreis der Menschen ist gar nicht so klein, die sich mit diesem Schritt schwer tun. Oft umso schwerer, je mehr Verantwortung sie vorher trugen. Was wird aus meinen Projekten werden? Wohin mit meinem Insider-Wissen? Die Angst vor Statusverlust kommt hinzu. Wer bin ich, wenn ich nur noch als Privatperson existiere? Lange waren solche Sorgen vor allem ein Männerproblem. Inzwischen wissen auch Frauen ein Lied davon zu singen.
Die Umwelt hat für Menschen im Übergang meist nur einen etwas altklugen Rat bereit: „Loslassen. Du musst lernen los zu lassen.“ Der Rat ist gutgemeint, dennoch frage ich mich inzwischen, ob er wirklich hilfreich ist. Etwas los zu lassen heißt auf der praktischen Ebene ja auch: etwas fallen lassen! Und Verantwortung kann man nicht einfach fallen lassen, nicht, wenn man sie vorher ernst genommen hat.
Das haben mir neulich die Aufzeichnungen einer Frau deutlich gemacht, die als Leiterin einer wissenschaftlichen Bibliothek Verantwortung trug für 26 Mitarbeiter und einen Bibliotheksbestand von über 200 000 sogenannten „Medieneinheiten“. Mehr als 9000 Studierende und Lehrende nutzen diese Bibliothek. ZigTausende von Entleihvorgänge sind zu organisieren. Ununterbrochen ist über konventionelle und elektronische Neuzugängen die Aktualität zu sichern.
Loslassen! Soll das ein Witz sein? Aus den Aufzeichnungen dieser Direktorin wurde mir deutlich, wie sehr nicht das loslassen, sondern das weitergeben die letzten Jahre und Monate im Amt bestimmt oder bestimmen kann. „Ich wollte“, sagte die Scheidende, „den nach mir Bleibenden und Kommenden möglichst viel abgeschlossene, wenigstens geordnete und nachvollziehbare Sachverhalte und möglichst wenig Unangenehmes hinterlassen. Wenn sich eine „Kröte“ nicht vermeiden ließe, sollte sie wenigstens bekannt sein.“
Wissenstransfer heißt das in der Sprache der Organisationsentwickler und es meint nicht nur die Einarbeitung der Nachfolge. Alle Projekte, alle Teams und Arbeitsgruppen, alle Netzwerke innerhalb und außerhalb des Hauses sind einzubeziehen. Dieser Prozess braucht Zeit. Eine Excel-Datei war für meine Informantin das organisatorische Hilfsmittel. Ein Zettel an der Windschutzscheibe im Auto das psychologische. Darauf stand: No more. Never more. Nichts mehr. Nie wieder.
Weitergeben und loslassen: zwei Seiten derselben Medaille? Mich hat der Einblick in diesen Abschied aus der Arbeitswelt, betroffen gemacht. Er hat mich das eigene Unerledigte erinnert. Der geschilderte Prozess ist nämlich übertragbar. Fast eins zu eins. Auch unsere Lieben sind, wenn wir denn eines Tages gehen müssen, dankbar für „Wissenstransfer“ und eine „geordnete Übergabe.“ Nur weil der Termin dieses letzten Abschieds nicht feststeht, können wir uns doch nicht darüber täuschen, dass er kommen wird. Die Aufgabe ist klar: Das eigene Leben so zu betrachten, als sei es das eigene Leben nicht mehr. Ich will mir Zeit dafür nehmen, bevor mir die Zeit genommen wird. Versprochen.