hr2 ZUSPRUCH
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Spory, Dr. Anke

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

Liebe macht frei

Liebe macht frei

Ich sitze mit einem Mann und seiner Frau am selben Tisch. Sie erzählen mir, wie sie sich kennengelernt haben. Da sieht der Mann auf einmal seine Frau an und strahlt: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Frau heirate, die zwei Köpfe größer ist als ich. Aber dann habe ich gedacht: Ist doch egal, was die anderen sagen! Hauptsache, ich liebe sie. Es gibt so etwas wie ungeschriebene Gesetze. So eins wie: Der Mann ist immer größer als die Frau. Sie existieren in unseren Köpfen und manchmal stoßen wir uns daran, weil sich einer darüber hinweg setzt. So wie der Mann, der seinem eigenen Herzen gefolgt ist, ohne danach zu fragen, was die anderen sagen. Es gibt Menschen, die haben diese innere Freiheit. Sie tun das, was sie für richtig halten und oft ermutigen sie damit auch andere, unnötige gesellschaftliche Konventionen in Frage zu stellen.

Ich glaube, Jesus ist so ein Mensch gewesen. Mit wem er sich umgeben hat! Zöllner, Prostituierte, die kleinen Fischer, die niemandem wichtig waren. Mit ihnen hat er gegessen, mit ihnen hat er gesprochen. Seine Jüngerinnen und Jünger sind mit ihm durch Galiläa gezogen, ohne Vorräte, ohne Schuhe, ohne einen Stab, um sich zu verteidigen. Sie haben anders gelebt. Und sie haben so von Gott gesprochen, dass die Menschen neugierig geworden sind. Andere haben sich daran gestoßen, wie Jesus aufgetreten ist. Sie haben angefangen, schlecht über ihn zu reden, ihn einen Fresser und Weinsäufer genannt. Sie haben ihm vorgehalten, dass er nicht weiß, was sich gehört und das Gesetz vorschreibt.

Jesus war geprägt von dem Glauben, dass jeder Mensch, jede Frau, jeder Mann, jedes Kind ein Ebenbild Gottes ist. Zuallererst bist du ein Geschöpf Gottes, ob du krank bist, ob du außen vor stehst, oder ob die anderen dich einen Nichtsnutz schimpfen. Er hat damit eine entscheidende Frage umgekehrt: Die Frage nämlich, wer bestimmt eigentlich, wer ich bin? Sind es die anderen, die mich ausschließlich in meiner sozialen Rolle sehen? Sind es die familiären Verpflichtungen, die bestimmen, wie ich mich zu verhalten habe? Oder ist es mein Herkommen, das darüber entscheidet, wie ich wahrgenommen werde? Jesus hat die Kraft, das zu tun, was er für richtig hält, aus dem Glauben geschöpft. Dem Glauben, dass alle Menschen vor Gott geachtete und geliebte Menschen sind. Ebenbilder Gottes eben. Das hat ihm die innere Freiheit gegeben, sich über bestehende Abgrenzungen und Ausgrenzungen hinweg zu setzen.

Für mich sind diese Geschichten wichtig. Denn sie zeigen mir: Wie die anderen mich sehen, ist nicht das Kriterium, das zählt. Es geht für mich eher darum: Wie wachse ich in diesen Blick hinein, in den anderen Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen? In den anderen, aber auch in mir. Worauf gründet meine innere Freiheit und wie drückt sie sich aus? Wo passe ich mich in meinem Lebensstil, in meinem Denken und Handeln nur an andere an? Wo übernehme ich fraglos Einschätzungen und Beurteilungen? Und manchmal entgeht einem ja wirklich was, wenn man nur danach fragt, was die anderen denken. Zum Glück hat der kleine Mann nicht danach gefragt, was die anderen sagen. Sonst wäre ihm vermutlich seine große Liebe durch die Lappen gegangen. Und das wäre doch echt schade gewesen!