Lebensweisheit - zum 200. Geburtstag von Friedrich Hebbel
„Gott braucht uns. Er ist abhängig von uns.“ Das ist nicht die einzige irritierende Lebensweisheit, die ich vor kurzem bei einem Geburtstagsbesuch bekommen habe. Aber ich war ja vorgewarnt worden. Der ältere Herr, den ich zum Geburtstag besuchen sollte, habe schon sehr eigenwillige Ansichten.
Ich klingele an der Haustür. Der alte Mann – ich nenne ihn hier mal Wilhelm Schneider – öffnet und begrüßt mich. Unbeholfen ist er, ich merke, dass er nicht mehr gut sieht. Auf dem Esszimmertisch steht ein großes Lesegerät. „Sie müssen entschuldigen, meine Augen, ich bin schon fast blind. Und dabei habe ich früher so gern gelesen“, sagt Herr Schneider. Ich frage ihn, ob er sehr unter dem Verlust seiner Sehkraft leidet. „Natürlich“, antwortet er und fährt fort: „Aber dann sag ich mir: ‚Wilhelm, willst du stattdessen lieber Krebs oder Demenz haben?’ Nein, willst du nicht, Wilhelm. Also dann sei Gott, dem Herrn, dankbar und füge dich in dein Schicksal.“ Und er fügt noch hinzu: „Dazu gibt es einen Spruch von Hebbel: Klage nicht zu sehr über einen kleinen Schmerz; das Schicksal könnte ihn durch einen größeren heilen.“
Der Dichter Friedrich Hebbel ist sein Lieblingsschriftsteller. Dann erzählt Herr Schneider von sich und seinem Leben. Dass seine Frau schon vor 20 Jahren gestorben ist. Und dass sein einziger Sohn vor zehn Jahren einen Herzinfarkt hatte – Sekundentod. Dass er allein übrig geblieben ist. Dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Dass er sich ganz schön aufregen kann über alles Mögliche. Herr Schneider kennt sich ganz gut selbst. Er sieht sich mit einer Menge Humor. Schmunzelnd sagt er:
„Wissen Sie, auch mit Hebbel war nicht gut Kirschen essen. Er war wohl ziemlich aufbrausend. Genau wie ich. Er hat mal gesagt: ‚Jedenfalls ist es besser, ein eckiges Etwas zu sein als ein rundes Nichts.’ Und: ‚Jeder Mensch trägt einen Zauber im Gesicht: irgendeinem gefällt er.’ “ Ich fange an, Herrn Schneider zu bewundern. Ziemlich einsam, mit schlechten Augen, keine Aussicht auf Besserung, sehr realistisch und trotzdem humorvoll. Ich frage ihn, woher er denn sein Gottvertrauen nehme.
Da wird er ernst: „Meine Großmutter war sehr fromm und hat jeden Abend mit mir gebetet. Seitdem habe ich das Gefühl: Gott ist mit dabei und sieht den Zauber in mir und meinem Leben. Ich gehe heute noch in den Frankfurter Dom. Das mache ich immer an meinem Geburtstag. Und dann zünde ich dort eine Kerze an aus Dankbarkeit für mein Leben.“ Ich frage ihn, wie er den Weg bis zum Dom findet, mit so schlechten Augen. Er sagt: „Irgendjemand hilft mir immer dabei.“ Vielleicht kommt diesmal seine Schwiegertochter mit. Bei der hat er sich vor drei Wochen endlich mal wieder gemeldet.
Zum Abschied bekomme ich noch eine gute Portion Lebensweisheit und Gottvertrauen mit auf den Weg. Herr Schneider sagt: „Ich glaube ja, Gott ist von uns Menschen abhängig. Wenn wir uns hier auf der Erde gut vertragen, dann wird Gott sichtbarer. Hat der gute alte Hebbel auch mal gesagt: ‚Wenn alle Menschen sich bei der Hand fassen, dann ist Gott fertig.’“