hr2 ZUSPRUCH
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Kohl, Rüdiger

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Theologischer Referent der Stellvertretenden Kirchenpräsidentin der EKHN

Gott suchen

Gott suchen

Ich gehe durch die Drehtür und steige einige Stufen nach oben, betrete die Plattform und bin in einem riesigen lichtdurchfluteten, runden Raum, der von einer Stimmung der Andacht beseelt ist. Ich bade sozusagen im weißen Licht, ohne dass es mich blenden würde. So muss es sich anfühlen, wenn man sich in einer riesigen Wolke aufhält, denke ich. Irgendwie scheinen sich alle Menschen, die mit mir hier sind, in einer Art Schwebezustand zu befinden. Niemandem würde es einfallen zu rennen.

Mein Blick wird wie automatisch nach oben gezogen, an den weißen Wänden entlang, zu der Kuppel, durch die das Licht hereinfällt, in 94 Metern Höhe. Ich lege mich auf eine der Matten, die für die Besucher bereit liegen, und schaue hoch. So einen Sog licht- und himmelwärts muss ein Mensch im Mittelalter gespürt haben, der erstmals eine gotische Kathedrale betrat.

Diese Kathedrale ist nicht alt und nicht aus Stein. Sondern aus Stoff, Licht und Luft. Der berühmte Künstler Christo kann nicht nur den Reichstag verhüllen, sondern auch Luft verpacken. „Big Air Package“ heißt seine Skulptur, die den Gasometer in Oberhausen ausfüllt, diesen zur Ausstellungshalle umgebauten Gasspeicher. Eine „Kathedrale aus Licht“ nennt er sie. Christo hat einen enormen Aufwand betrieben, um mit dieser Skulptur ein Gefühl der Andacht zu inszenieren. Dazu brauchte er 350 Quadratmeter lichtdurchlässiges Gewebe, das er aufblasen ließ, befestigt an 4 500 Metern Seil. Er schuf einen Ort jenseits des Alltags, an dem ich durchaus das Gefühl hatte, Gott nahe zu sein.

Aber wie lange reicht dieses Gefühl, diese Erinnerung an das Licht? Kann ich Gott auch in meinem Alltag finden? Oder muss ich mir einen Ort schaffen, an dem ich Gott begegnen kann? In der Bibel wird erzählt, wie der Apostel Paulus einmal auf dem Aeropag in Athen eine berühmte Rede hielt. Viele Menschen eilten vorbei. Einige blieben stehen. Waren offen, die damals neue Nachricht von der Auferstehung Jesus Christi zu hören. Paulus ermutigte sie, mitten in ihrem Alltag mit Gottes Nähe zu rechnen. Er sagte: „Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Er gibt den Menschen Leben und Atem und alles, was sie brauchen. Er ist nicht ferne einem jeden von uns, denn in ihm leben, weben und sind wir.“

Ich lerne: Es gibt keinen Ort, an dem wir Gott nicht begegnen können. Auch wenn so viele scheinbar andere Dinge im Alltag zu erledigen sind, die gefangen nehmen und unglaublich wichtig erscheinen. Gott ist nicht fern. Er ist nahe – auch dann, wenn wir davon nichts spüren. Dann vielleicht sogar ganz besonders. So nah, wie Jesus den Menschen war in allem Glück und in allem Elend.

Die Kathedrale aus Licht in Oberhausen, die der Künstler Christo in einem alten Gasometer geschaffen hat, hat mich tief berührt. Aber ich weiß: Gott geht auch im Alltag mit. Ob beim Autofahren oder im Büro, bei der Hausarbeit, beim Spielen mit den Kindern: Gott ist nahe. „In ihm leben, weben und sind wir.“, und niemand muss dafür großen Aufwand betreiben. Es kommt nur darauf an, bereit zu sein für Begegnungen, die bereichern; offen zu sein für Menschen, die Licht ins Dunkel bringen.