Du bist nicht mein Feind
Ein Satz machte den Israeli Ronny Edry im Frühling 2012 weltweit bekannt. Er hat gesagt: „Du bist nicht mein Feind!“. Ronny Edry, Familienvater und Designer, startete mit diesem Satz eine ungewöhnliche Aktion gegen die politische Propaganda seines Landes. Über Facebook verschickt er ein privates Familienfoto an ihm fremde Menschen im angeblichen „Feindesland“ Iran. Daran knüpft er die Botschaft: „Iraner, wir werden niemals euer Land bombardieren, wir lieben euch! Damit ein Krieg zwischen uns entstehen kann, müssen wir zunächst einander hassen! Wir hassen Euch nicht!“ Anschließend forderte er alle auf, die die Botschaft gelesen haben, diesen Satz weiterzuverbreiten.
Und tatsächlich – die Menschen aus dem Iran antworteten: „Meine israelischen Freunde. Ich hasse Euch nicht. Ich will keinen Krieg. Ich will Liebe und Frieden!“ Binnen einer Woche senden 40.000 Menschen aus Israel und Iran sich gegenseitig genau diese Botschaft. Jeweils mit ihrem persönlichem Foto. Und wie eine Lawine geht diese Aktion weiter. Menschen aus anderen Krisengebieten schließen sich an. Sie senden sich gegenseitig Friedenserklärungen mit ihren Bildern. Aus angeblichen Feinden werden Menschen mit Gesichtern. ISeitdem gehen Millionen dieser Botschaften um die Welt. Eine politische Protestbewegung entsteht. Mit scheinbar harmlosen Worten will sie die Eskalation von Gewalt aufhalten.
Als ich die kurze Botschaft von Ronny Edry im Internet zum ersten Mal anklickte, fesselte mich der Blick seiner Augen. Auf gleicher Höhe mit mir auf meinem Bildschirm sah er mir direkt in die Augen. Ich hätte es nicht mehr gewagt, sein Friedensangebot abzulehnen, wo ich ihn doch so gut wie persönlich kennengelernt hatte.
„Du bist nicht mein Feind“ – eigentlich ein uralter Grundsatz, denn das zentrale Gebot der Bibel heißt: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“. Im vertrauten Miteinander erfordert das keine besondere Anstrengung. Brisanz gewinnt dieser Satz von Jesus aber da, wo Menschen nicht mehr als einzelne gesehen werden, sondern als Angehörige eine Gruppe. Er ist brisant, wo in angeblich nationalem Interesse Feindschaft geschürt und Feindbilder verbreitet werden. Was Ronny Edry getan hat, zeugt von Mut. Er hat in seinen Worten ausgesprochen: Ich liebe Dich, Nächster. Du bist nicht mein Feind. Wenn ich einzelne Menschen anschaue, kann ich besser darüber nachdenken: Werden die Bilder, Vorstellungen und Vorurteile, die ich von meinem Gegenüber habe, ihm wirklich gerecht? Kenne ich ihn wirklich? Weiß ich tatsächlich, was sie will und was ihm gut tut?
Durch die Begegnung mit Edry fühle ich mich neu herausgefordert, mir diese Fragen zu stellen. Und so auf andere Menschen zuzugehen, ihnen in die Augen zu schauen.