Die Wahrheit befreit (2)
Hätten Sie’s gewusst? „Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande.“ Das steht in der Bibel. Jesus hat es gesagt. Es klingt ein wenig müde, fast resigniert. Jesus verkündigte die Frohe Botschaft von der Liebe Gottes und vom Frieden für alle Menschen und rief sie zur Umkehr auf. Das war wohl unbequem. In seiner Heimatstadt folgten ihm nur wenige.
„Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande.“ Warum ist das wohl so? Vielleicht, weil man vertraute Menschen in einer vertrauten Art und Weise erleben möchte. Schert nun jemand aus und stellt das - womit auch immer - in Frage, so wird er oder sie leicht als unangenehm oder sogar bedrohlich wahrgenommen. Wer etwas im eigenen Umfeld ändern möchte, stößt häufig auf Widerstände.
Warum ich Ihnen das heute Morgen erzähle? Vor genau 30 Jahren, am 28. August 1983, wurde der Künstler Harald Naegeli verhaftet, der \"Sprayer von Zürich\". Ich finde, auf ihn trifft dieser biblische Satz zu vom Propheten, der in seinem Vaterland nichts gilt. Naegelis sprühende Ideen provozierten die ordnungssinnigen Bürger in Zürich. Von den Schweizer Behörden wurde er mit Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf: Sachbeschädigung. Die Strafe: Neun Monate Haft. So wurde er zum Märtyrer der Kunstszene.
Nägelis Besonderheit waren an Hauswänden gesprühte Strichmännchen, aber die waren alles andere als harmlos. Tausende Schreckensbilder. Signale, Aufschreie. Sparsam und perfekt gezeichnet. Die Botschaft: Nie wieder Krieg! Klar, Sprayereien an fremden Wänden sind illegal. Aber Naegeli hatte einen wichtigen Motor für seinen spirituellen, geistigen Anarchismus: Er wurde während des Krieges geboren und malte schon als Kind Kriegs- und Schlachtenbilder. Deshalb seine immer wiederkehrende Botschaft: Krieg soll nicht sein.
Er merkte bald: Daheim komme ich mit meiner Botschaft nicht an. Die Propheten der Bibel kannten das auch: Notfalls haben sie um ihrer Botschaft willen lange Wanderungen und Wüstenaufenthalte unternommen. Erst in der Fremde ist man nicht mehr so eingebunden, dass man nur noch schweigen kann oder muss.
Naegeli ging ins Ausland. In Venedig malte er viele Fische an Hauswände, um auf den Zustand der Gewässer aufmerksam zu machen. Und in Köln setzte er sich mit der zentralen Gewaltszene des christlichen Glaubens auseinander. Da appellierte der Sprayer mit einer großen Kreuzigungsszene an die Pietät der Kölner. Er zeigte mit seinen Mitteln, wie Jesus Opfer von Gewalt wurde, weil dieser die Menschen zur Umkehr rief. Naegeli begriff die Kreuzigung Jesu als einen großen Protest gegen Gewalt an Menschen zu allen Zeiten, an allen Orten. Er wollte, dass sich die Menschen mit den eigenen Erfahrungen mit Gewalt und Unrecht auseinandersetzen. Und vielleicht dadurch offener werden für das Leid anderer.
Seine Kunst wurde gesehen und rüttelte auf. Er blieb nicht allein. Einflussreiche Menschen solidarisierten sich mit ihm, vor allem in Deutschland. Hier bekam er sogar einen Lehrauftrag für seine Kunst, in Wiesbaden.
Später wurde Harald Naegeli auch in seiner Heimatstadt rehabilitiert: Die Stadt Zürich ließ eine seiner noch vorhandenen Fresken restaurieren. Nach einem Umbau 1995 stufte die kantonale Baudirektion sein Werk als erhaltenswert ein, schützte sie mit einer Holzabdeckung und bezeichnete als Kunst, was man offiziell früher nur „Schmiererei“ genannt hatte. Vielleicht war das ja auch ein Versuch, seine Botschaft zu verharmlosen. Naegeli selbst jedenfalls hat sich mit Zürich nicht versöhnt. Er will die Wunde offen halten. Weiter für den Erhalt von Lebensräumen streiten. Vielleicht fängt er sogar wieder an, zu sprayen. Zuhause oder anderswo.