hr2 ZUSPRUCH
hr2
Schoen, Dr. Ursula

Eine Sendung von

Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Die Liebe macht die Dinge süß, die bitter sind

Die Liebe macht die Dinge süß, die bitter sind

Zu besonderen Anlässe ziehe ich ihn an – meinen Korallenschmuck! Warm leuchtende orangene Perlen ganz zart in Gold gefasst und filigran ausgestaltet. Er ist über hundert Jahre alt - ein Familienerbstück - von Generation zu Generation weitergeben. Weitergeben wurde auch die Geschichte, die zu diesem Schmuck gehört: Eine meiner Urgroßtanten wurde mit einer schweren körperlichen Behinderung geboren. Sie hatte einen großen Buckel. Ganz aufrichten konnte sie sich nie und gehen nur mühsam. Eine besondere Beziehung verband sie mit ihrem fünfzehn Jahre älteren Bruder. Auf einem vergilbten Foto sieht man die beiden. Er hat den Arm schützend um sie gelegt und sie lacht in die Kamera. Stolz schaut er seine Schwester an. Der Bruder ließ den wertvollen Korallenschmuck für sie machen: Schön sollte sie sein – nicht nur in seinen Augen, sondern in den Augen aller.

Die Liebe macht die Dinge süß, die bitter sind, wertvoll, die nichtig sind, hoch erhaben, die verachtet sind, so sagt Martin Luther in seinem Kommentar zu Psalm 5. Luther unterscheidet zwischen den Urteilen, die uns Augenschein und Verstand eingeben und den Urteilen, die aus der Liebe geboren werden. Angezogen werden wir von dem, was schön ist und vollkommen, was verheißungsvoll klingt und Glück verspricht. Was die Augen genießen und unser Verstand als nützlich und sinnvoll begreift. – Daneben gibt es das Andere: Luther nennt es „bitter“ und „nichtig“ – Dinge, auf die auf die wir nicht „acht“ geben wollen, sondern mit denen wir innerlich ringen und die wir gerne zur Seite drängen möchten.

Eltern, die ein Kind mit Behinderungen haben, sprechen manchmal vom Gefühl, versagt zu haben. Partner und Partnerinnen von dementen Menschen fühlen sich hilflos, weil sie deren Abgleiten in eine andere Welt nicht aufhalten können. Erfahrungen, die nicht „schön“ werden, indem wir sie „schön“ reden. Sie sind Realitäten, mit denen wir leben und die wir in gewisser Hinsicht auch „ertragen“ müssen. Nur durch die Liebe wächst die Bindung an das Kind und bleibt das Wesen des jungen Partners im alten lebendig.

Martin Luther schreibt an einer anderen Stelle: Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt, und weiter meint er: Weil sie geliebt werden, sind die Sünder »schön«, nicht aber werden sie geliebt, weil sie »schön« sind. Weil diese göttliche Liebe sich auf die Schattenseiten richtet, darum werden diese nicht ausgeblendet, sondern verwandelt. Diese schöpferische Liebe Gottes ist eine Kraft, die Menschen verändern kann, die Leben wert und würdig macht. Sie wirkt, wo Menschen an diesen Gott glauben. Der Schmuck meiner Urgroßtante liegt noch in meiner Hand - Die Liebe macht die Dinge süß, die bitter sind, wertvoll, die nichtig sind, hoch erhaben, die verachtet sind… auch durch mich.