Die Küche als Erinnerungsort
Nein, sagte die Freundin, sie könne jetzt nicht mit mir reden. Ihr Bruder sei gestorben und werde gerade jetzt beerdigt. Sie selbst sei krank, habe zur Beerdigung nicht fahren können, wolle aber nun in die Küche gehen. Um an ihn zu denken. In die Küche. Ich war irritiert. Dass die Freundin für solche Zeit des Gedenkens keine Kirche aufsuchen würde, war mir klar. Sie ist schon lange ausgetreten. Dass sie sich aber in der Vierzimmer-Wohnung ausgerechnet die Küche als Rückzugsort aussuchen würde, wo doch mindestens noch ihr Arbeitszimmer oder ihr Schlafzimmer und auch die kleine Bibliothek zur Verfügung gestanden hätten, das fand ich verwunderlich und begann darüber nachzudenken.
Die Küche. Eine Werkstatt. Vollgestopft mit Objekten, die sich in keinem anderen Raum sonst finden lassen. Herd, Kühlschrank, Spülmaschine und Mülleimer. In den Schränken dann Pfannen und Töpfe. Tassen und Teller, Schüsseln und Platten. In den Schubladen Messer, Gabeln, Kochlöffel, Schneebesen, Siebe, Reiben…und in den Regalen Vorräte ohne Zahl. Wollte man wirklich mal durchzählen, womit so eine normale Mittelstandsküche bestückt ist, man wäre schnell im vierstelligen Bereich.
Hat dazwischen Trauer Platz? Woran will sie sich festmachen? Hat sich die Freundin als Kind zusammen mit dem Bruder etwa besonders gern in der Küche aufgehalten? Liebt sie den Essensgeruch? Die Mutter war eine gute Köchin gewesen, das weiß ich aus Familienerzählungen. War es also der Versuch, sich in dieser Situation den Geschmack der Kindheit zurückzuholen? Ich denke, diese Entscheidung für die Küche als Ort der Erinnerung hatte Gründe, die sich der Rationalität entziehen. Die Feuerstelle war immer, soweit die Menschheitsgeschichte zurückreicht, der Ort an dem die Gemeinschaft sich sammelte. Wärme und Nahrung waren das Versprechen.
Selbst in unseren Kleinfamilien ist die Küche oft der eigentliche Lebensmittelpunkt. Die Rückkehr der Wohnküche erzählt davon. In dem, was hier alltäglich vor sich geht, spiegelt sich gewissermaßen das Leben als Ganzes: Viel Mühe und Arbeit. Viel Liebe und Fürsorge. Eine Menge Abfall. Und höchst vergängliche Arbeitsresultate, deren wir immer wieder neu bedürfen. Nahrung ist Leben und essen heißt, dem Tod noch nicht das Feld zu überlassen.
„Steh auf und iss“, sagt in einer der schönsten Geschichten des Alten Testaments der Engel zu dem erschöpften Propheten Elia, der sich zum Sterben hingelegt hatte und nicht mehr weiter wollte. Der Engel stellt Wasser und Brot vor den Lebensmüden hin, wiederholt die Aktion sogar, es ist ihm wichtig. „Steh auf und iss. Du hast noch einen weiten Weg vor dir.“ Elia gehorcht. Meine Freundin, tief verstört von der Nachricht vom Tod des Bruders, hat lange in der Küche gesessen. Am Ende hat sie eine Suppe gekocht. Für sich und ihren Mann. Das Leben geht weiter. War da ein Engel vorbei gegangen?