Der Punkt
Ina sitzt im Kunstunterricht vor einem leeren Blatt. Sie ist ungefähr 8 Jahre alt. Nichts fällt ihr ein, sie ist genervt und Malen kann sie sowieso nicht. Ihre Lehrerin schaut sich das leere Blatt an und sagt: „Oh! Ein Eisbär im Schneesturm!“ Ina entgegnet: „Sehr witzig! Ich kann einfach nicht malen!“ Sie fühlt sich klein und unfähig. Mit dieser Szene beginnt das Bilderbuch „Der Punkt“ von Peter H. Reynolds. In Inas Geschichte kann ich mich gut wiederfinden. Ich denke an meine Ohnmachts - Erfahrungen und an Tiefpunkte, aus denen ich nicht allein herauskam.
Gut, dass Ina diese besondere Lehrerin hat. Sie will Ina von ihrem Tunnelblick befreien. Sie sagt: „Ina, fang einfach an, und warte ab, was dann passiert!“ Ina klatscht wütend ihren Stift aufs Papier und produziert dabei einen fetten Punkt. Dann befiehlt die Lehrerin ihr noch, ihren Namen darunter zu schreiben. Als Ina das nächste Mal in den Kunstunterricht kommt, ist sie erstaunt. Im Malraum hängt ein neues Bild, mit einem wunderbaren verschnörkelten Gold - Rahmen. Es ist ihr Bild mit dem einen unmotivierten Punkt und ihrem Namen darunter. Ihr Ehrgeiz ist geweckt: Sie will einen noch schöneren Punkt malen. Ina hört gar nicht mehr auf zu malen. Sie traut sich plötzlich, große Flächen zu füllen, ihre Wasserfarben zu benutzen und zu experimentieren: kleine und große Punkte, bunte und einfarbige Punkte, viele Punkte auf einmal oder nur einen einzigen. Später gibt es sogar eine Kunstausstellung an der Schule, bei dem Inas Bilder große Beachtung finden.
Die Lehrerin hat es geschafft: Sie hat Ina Selbstbewusstsein gegeben und sie aus ihrer Anti-Haltung, aus ihrem Kreisdenken „Ich kann sowieso nichts“ herausgeholt. Für mich steht Inas Mal-Lehrerin für alle Menschen, die mir in meinem Leben Selbstbewusstsein und Anerkennung gegeben haben, die mich weiter gebracht und in ausweglosen Situationen an mich geglaubt haben. Gleichzeitig ist die Lehrerin in meinen Augen ein wunderbares Bild für Gott. Er hat mir ja genau diese Menschen an meine Seite gestellt. Gott sieht meine verborgenen Kräfte und Fähigkeiten und holt sie aus dem Dornröschenschlaf hervor. Er fordert mich immer wieder heraus, etwas Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Gott macht mir Mut, weiterzumachen, durch solche Menschen. Auch in Zeiten, die mir leer und sinnlos erscheinen.
Es ist, als ob Gott meine Lebensleistung würdigt und sie mit einem schönen Rahmen allen zeigt. Wer sich so geschätzt und gewürdigt weiß, dem fällt es leicht, andere stark zu machen. In dem Bilderbuch über Ina bewundert später ein kleiner Junge Inas Bilder. Er sagt zu ihr: „Das könnte ich nie! Ich kann nicht mal eine gerade Linie zeichnen!“ Ina macht ihm Mut: „Wetten, das kannst du! Fang einfach an und zeig es mir!“ Und dann fährt sie noch fort: „Und jetzt schreib noch deinen Namen darunter!“