Der Name
Die Inschrift auf dem Grabmal war ungewöhnlich. Fast hätte ich es auf dem Weg über den Johannisfriedhof in Nürnberg übersehen. Zwischen anderen barocken Grabanlagen mit wertvollen und oft verwitterten Bronzeplatten lag dieses Grab. Äußerlich unterschied es sich kaum von anderen. Aber seine Grabplatte war ungewöhnlich.
Dort fehlte nämlich jeder Hinweis, wer hier begraben wurde. Es gab keine Namen und keine Jahreszahl. Zunächst sprangen in Bronze gegossene, kreisförmig angeordnete Blätter ins Auge, dann am oberen Ende auf jeder Seite zwei sitzende Engel, die weinten. In den Blättern waren Groß-Buchstaben eingefügt. Sie lagen kreuz und quer, zum Teil verkehrt herum, manche waren schon beschädigt.
Es war etwas mühsam, aus diesem Buchstabenhaufen die einzelnen Buchstaben herauszufinden. Da war ein A dabei, kaum erkennbar auch ein W, ein R, S und nach einigem weitern Hinsehen auch weitere Buchstaben. Sie ergeben nur keinen Sinn. Ich stand vor einem Rätsel – einem Buchstabenrätsel!
Es schien, als wollte ein Mensch vor knapp dreihundert Jahren zeigen, was der Tod mit ihm macht. Als wollte er sagen: Wenn ich gestorben bin, dann wird der Tod nach und nach die Erinnerung an mich auslöschen. Dann wird das, was ich als mein Leben begriffen habe und was andere in mir gesehen haben, langsam verblassen. Im Grunde bestimmt diese Angst jeden kurz vor seinem Tod: dass am Ende nur noch Verwirrung bleibt, ein unleserlicher Schriftzug, eine Erinnerung, die niemand mehr zum Ganzen einer Persönlichkeit zusammenfügen kann.
Wenn man die Grabplatte genauer ansieht, so ist da noch eine andere Botschaft. Ich erkenne oberhalb des Buchstabenhaufens zwei kleine Engel, die die Buchstaben ordnen Ein I ist schon aufgerichtet. Ebenso über die Buchstaben R, S und W, die sich unterhalb des I befinden. Mit ausgestreckten Armen deuten die Engel auf das I, so als wollten sie sagen: “Schaut her, wir sind schon dabei, den Namen zusammenzusetzen!“ Forscher haben später herausgefunden, dass der Name dieses Mann: Jakob Rosenwirth war.
Die Grabplatte berührt in mir tiefe Fragen. Was bleibt von mir? Wie sieht eigentliche meiner eigenen Zukunft aus? Dieser Mensch, der die Grabplatte so in Auftrag gegeben hat, hat darauf gesetzt, dass sein Leben bei Gott nicht einfach vergessen ist, das sich Gott an ihn erinnert, wenn die Erinnerung der anderen verblasst ist. Jesus sagt: „Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind!“: Aber nicht nur mein Name, überhaupt mein Ich, meine Person, meine Identität ist unversehrt bei Gott.
Gestern am Totensonntag wurde in vielen Gemeinden eine besondere Tradition gepflegt: Die Namen werden verlesen der in den letzten zwölf Monaten Verstorbenen. Es wird für sie und ihre Angehörigen gebetet. Für alle, die dabei sind, ist das ein bewegender Moment. Vielleicht verblasst die Erinnerung, doch im Himmel sind die Namen aufgeschrieben.