Der kürzeste Weg von einem zum anderen - ein Lächeln
"Der kürzeste Weg von einem Menschen zu einem anderen ist ein Lächeln". Dieser Satz stand auf einer Postkarte, die mir jemand zu meinem Geburtstag geschickt hat. Und zu dieser Aussage passte auch das Bild auf der Karte. Es zeigte einen kleinen Jungen aus Brasilien. Er stand vor einer armseligen Hütte in den Elendsvierteln, in denen das Überleben - auch für Kinder - sehr schwer ist. Aber der Junge lächelt und sein Lächeln ist freundlich und einladend, offen und ehrlich. Sein freundliches Lächeln ist.
Der kürzeste Weg von einem Menschen zu einem anderen ist ein freundliches Lächeln. Freundlich heißt doch: ich sehe dich als Freund; und das meine ich auch so. Du bist nicht nur ein möglicher Kunde für mich, den ich mit meinem Lächeln ködern und dann abkassieren kann. Ich bekomme nahezu jeden Tag mit der Gießener Tageszeitung, die ich abonniert habe, eine Menge Werbebroschüren. Da werde ich eingeladen, Fisch aus der Nordsee und Kirschen aus der Region zu essen oder gerade günstige Strandmode und Campingwagen zu kaufen. Überall sieht man bei dieser Werbung lächelnde Menschen - meist Frauen.
Dieses Lächeln ist ein Verkaufstrick. So eine Art Werbelächeln. Da kann es schon vorkommen, dass dasselbe Gesicht eines Models mit demselben Lächeln für Strandmode oder Gurkensalat wirbt. Aber das ist nicht das offene Lächeln des brasilianischen Jungen auf der Postkarte. Sein Lächeln sagt einfach: Ich schaue Dich an, und ich zeige Dir, wer ich bin. Verstehst Du mich? Das ist der kürzeste Weg von einem zum anderen - ohne Verkaufsabsicht oder Werbetrick. So ein offenes, ehrliches Lächeln, das aus der Seele eines Menschen kommt, lädt dazu ein, diesen anderen Menschen wahrzunehmen und zu verstehen. Das ist ein kurzer Weg von einem zum anderen. Der wird manchmal verstellt, z. B. wenn ein Lächeln herablassend und arrogant wirkt.
"Da kann ich ja nur darüber lachen, was Sie da sagen". Dieser Satz ist in einer Diskussion gefallen, in der es um die Errichtung von Windrädern in unserer Stadt ging. Die Meinungen dazu sind nicht nur bei uns im Vogelsberg sehr verschieden. Das liegt in der Natur der Sache. Doch die Redewendung: Da kann ich nur darüber lachen sollte den anderen bloßstellen: Sie haben ja keine Ahnung; das weiß ich besser als Sie. Da verkehrte sich ein Lächeln in eine Waffe, verletzendes Auslachen.
Auf der Postkarte, die mir jemand geschickt hat ist das ganz anders. Der kleine brasilianische Junge lächelt mich an, aus seiner Elendshütte, in der er lebt. Und dieses Lächeln sagt: Hier siehst du mich so wie ich bin in meiner armseligen Welt. Schau mich an; sieh wer ich bin. Ich will dich gewinnen mit meinem Lächeln. Und der Junge hat mich gewonnen. Ich habe mich über die Vawelas, die Elendsquartiere vieler Menschen an den Rändern brasilianischer Großstädte informiert. Sein Lächeln hat mich eingeladen, mich für ihn und seine Geschwister in ihrer notdürftigen Lebenswelt zu interessieren. Seitdem unterstütze ich auch mit Geld Entwicklungshilfe, di ihm zu Gute kommen soll.
Was ist das Geheimnis des offenen und freundlichen Lächelns, das der kürzeste Weg von einem Menschen zu einem anderen ist? Ich glaube, dass dieses freundliche, offene Lächeln sagt: Schau her, so bin ich und ich meine Dich, den Menschen, den ich anlache. Mein Lächeln kommt aus der Seele. Und das ist nicht eine gewinnorientierte Grimasse nach dem Motto: "Immer nur lächeln", dass du gut verkaufst und verdienst. Es ist auch nicht das verletzende "da kann ich ja nur darüber lachen". Ein Lächeln, das aus der Seele kommt, lädt ein, den anderen, den lächelnden Menschen wahrzunehmen, ihn zu verstehen, mit ihm in Kontakt zu treten. Wahrscheinlich stimmt es doch, was der kleine brasilianische Junge sagt: "Der kürzeste Weg ist ein freundliches Lächeln von einem zum anderen".