hr2 ZUSPRUCH
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von Winterfeld, Charlotte

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Den Augenblick erkennen – Joshua Bell

Den Augenblick erkennen – Joshua Bell

Er hat eine Baseballkappe, ein lässiges Shirt und dunkle Jeans an. Langsam öffnet er seinen Geigenkasten, nimmt die Geige und stimmt die Saiten. Mitten im Eingangsbereich einer U-Bahn-Station in Washington, D.C. Der junge Mann stellt sich vor einen Mülleimer und schiebt den Geigenkasten offen vor sich. Dann legt er los, spielt Bach und Schubert und vergisst die Welt um sich herum. Und die Welt um ihn herum nimmt kaum Notiz von ihm. Während der Dreiviertelstunde, in der spielt, laufen über tausend Menschen im Berufsverkehr vorbei. Ein junger Mann bleibt kurz stehen, aber der Blick auf seine Uhr treibt ihn voran. Irgendwann kommt ein etwa dreijähriger Junge. Neugierig schaut er sich den Geiger an. Er möchte stehen bleiben, aber seine Mutter zieht ihn weg. Von den 1000 Passanten bleiben sechs für einige Zeit stehen, zwanzig werfen Geld in den Kasten, am Ende sind es etwa 32 Dollar. Zum Schluss bleibt eine Frau mit einem Plastikbeutel stehen, erst ungläubig, dann bewundernd. Sie hat den Mann erkannt. Es ist Joshua Bell, ein berühmter Geigenvirtuose.

Die Zeitung Washington Post hatte Joshua Bell im Jahr 2007 für dieses Experiment engagiert und nahm die Szene mit versteckter Kamera auf. Die Redaktion wollte wissen: Nehmen wir Schönheit wahr, auch in ungewohntem Umfeld? Lassen wir uns vom Augenblick berühren?

Ich weiß genau: Ich wäre auch an ihm vorbeigehetzt. Denn meistens gehe ich sehr zielgerichtet vor, habe nur das im Blick, was als Nächstes erledigt werden muss. So mancher hat sich schon beschwert, dass ich auf der Straße nicht gegrüßt habe. Es ist keine böse Absicht. Ich hätte also den besonderen Augenblick in der U-Bahn-Station auch nicht begriffen. Obwohl ich klassische Musik mag und sogar auch mal Bratsche gespielt habe. Das heißt doch: Wahrscheinlich verpasse ich viele schöne Dinge jeden Tag.

Auf der anderen Seite: Das Experiment macht mir auch Hoffnung: Wenn ich nur richtig hinschaue, dann sind hinter vielen Ecken und Türen kleine und große Wunder Gottes verborgen. Die Frage ist nur: Wie kann ich aufmerksamer dafür werden? Jedenfalls ab und zu. Denn wenn ich mir Zeit nehmen würde, jedes Wunder Gottes zu bestaunen, dann würde ich meinen Alltag nicht schaffen. Mein Ziel ist also, einmal am Tag etwas Schönes zu entdecken und zu genießen.

Ich nehme mir vor, den Tipp eines Kollegen auszuprobieren. Ich werde meine Termine nicht mehr so dicht hintereinander legen und für die Strecken von A nach B mehr Zeit einplanen. Gerade gestern bin ich einfach mal an der Nidda stehen geblieben, zwei Minuten nur, und habe den Enten zugeschaut, wie sie tauchen und gegen die starke Strömung schwimmen und wie sie vom Wasser fast direkt senkrecht in den Flug starten. Faszinierend! Hinterher hatte ich das Gefühl: Ich war in einer anderen Welt und habe diesen Moment nur für mich gehabt. Einmal am Tag ein kleines Wunder genießen. Das muss doch machbar sein, auch für mich.