Das hässliche Entlein
Als Jugendliche hat mir das Märchen vom hässlichen Entlein besonders gut gefallen. Der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen hat es geschrieben. Ein Schwanenküken wuchs unter Enten auf und wusste nicht, wer es war. Die anderen kleinen Enten hatten schon als Küken verschiedene Farben im Gefieder. Die Farben leuchteten fröhlich und bunt. Die Eltern der Entlein waren stolz auf ihre Kinder. Nur das eine sah grau aus und anders. Die ganze Großfamilie wandte sich von ihm ab. Es wurde wegen seines hässlichen Äußeren verlacht und gedemütigt. Es war eine schreckliche Zeit für das graue Küken, scheinbar Ente, eigentlich Schwan. Es hatte keine Freunde, fühlte sich elend und allein. Und am schlimmsten war, dass er selbst nicht wusste, wer er war und wohin er gehörte. Der junge Vogel wurde größer und zugleich immer einsamer.
Aber eines Tages wurde aus dem hässlichen Entlein ein wunderschöner weißer Schwan. Da hatte er verstanden, und die anderen auch: Er war überhaupt keine Ente. Deshalb sah er so anders aus als die anderen. Er war ein Schwan. Endlich wusste er, wer er war und wohin er wollte. Aus einem unsicheren verängstigten grauen Entlein war ein stolzer Schwan geworden, aus einem Kind ein junger Mann. Von da an wurde er geachtet und respektiert. Als Schwan.
Als Jugendliche habe ich mich oft mit dem hässlichen Entlein identifiziert. Ich wusste auch nicht, wer ich war, was ich wollte und wohin mich mein Leben führen würde. Doch, ich hatte Freundinnen und Freunde und mit meiner Familie kam ich auch gut klar. Aber trotzdem war ich auf der Suche, war unsicher und fühlte mich manchmal fremd und allein. Ich fühlte mich nicht cool genug, hatte keinen tollen Freund und war nicht Mittelpunkt der Clique. Da ist es als Jugendliche und junge Erwachsene manchmal ganz schön schwer, den eigenen Platz zu finden und zu wissen, wo es lang geht.
Als Erwachsene habe ich verstanden, dass es fast allen Jugendlichen so gegangen ist. Dass es zum Erwachsenenwerden dazu gehört, eine Weile verunsichert und ohne Orientierung zu sein. Ich habe auch gelernt, dass diese Suche nach sich selbst, nach Sinn und Orientierung eigentlich nie aufhört. Sie gehört zum Leben dazu. Für mich sagt das Märchen in seiner Sprache etwas, was auch die biblischen Geschichten erzählen: Jeder Mensch hat einen Platz im Leben, jeder Mensch ist einzigartig und gewollt. Denn Gott hat jeden einzelnen Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Unabhängig von seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner Geschlechtsidentität, seinem Glauben und seiner sexuellen Orientierung ist jeder Mensch ein Kind Gottes.
Dieser Zuspruch kann den Menschen genau wie das Märchen helfen, mutig den eigenen Weg zu suchen und nicht nur nach den Vorstellungen von anderen zu leben. Jede und jeder ist von Gott gesegnet, als Ente, als Schwan und als Mensch.