Benedikt und Hildegard
Auch Protestanten interessieren sich dafür, was ein römischer Papst sagt, tut oder lässt. Für viele Nicht-Katholiken zum Beispiel war die Entscheidung von Papst Benedikt, aus Altersgründen vom hohen Amt zurückzutreten, die wichtigste, die er in den knapp acht Jahren seines Pontifikats getroffen hat. Sie hat die Qualität des Papstamtes verändert. Hat es geerdet, ein Stückweit entsakralisiert und damit für das ökumenische Gespräch neue Horizonte eingezeichnet.
Ich stelle neben diese Entscheidung gern noch eine andere, ebenso überraschende, die fast ein bisschen untergegangen ist. Das ist die Entscheidung dieses Papstes, Hildegard von Bingen als kanonisierte Heilige anzuerkennen und als Kirchenlehrerin in den Kreis der großen Glaubenszeugen hineinzustellen. Er hat sie damit aus der Ecke der esoterischen Heilkunde und einer von den Klerikern kritisch beäugten, mystischen Frauenfrömmigkeit nachdrücklich herausgeholt. Ausgerechnet dieser hochgelehrte Theologieprofessor und strenge Wächter über die Glaubensinhalte des Katholischen, hat den Mut gehabt, diesen Schritt zu tun.
Mehr als 800 Jahre lang hatte die männliche Kirchen-Hierarchie das kategorisch abgelehnt. Dabei hatte es an Versuchen nie gefehlt. Denn Hildegard von Bingen hat eine breite Spur gezogen: Klostergründerin und Predigerin war sie, Mahnerin ihrer Kirche, Mystikerin, Komponistin, visionäres Medium tiefer theologischer Einsichten, aber auch selbstbewusste Politikerin, Managerin, Naturforscherin und Heilkundige. Das Volk hat sie immer wie eine Heilige verehrt. Die von ihr gegründeten Benediktinerinnen-Klöster Rupertsberg und Eibingen im Rheingau zehren bis heute von ihrer Strahlkraft, die nicht an den Grenzen des Katholischen haltmacht. Doch als die Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauenverbände, die immerhin 1,2 Millionen treuer deutscher Katholikinnen repräsentiert, zu Hildegards 800. Todestag 1979 die Forderung an Rom richtete, sie zur Kirchenlehrerin zu erklären, scheiterten die Verbände kläglich.
Eine Kirchenlehrerin müsse zunächst als Heilige anerkannt sein, war die Antwort aus Rom. Das aber sei im Fall Hildegard nicht möglich, weil ein nachweisbares Wunder fehle. Doch die Hildegard-Anhängerinnen, insbesondere die Benediktinerinnen der Abtei St. Hildegard in Eibingen bei Rüdesheim, gaben nicht auf. Und mit dem deutschen Papst wuchsen ihre Hoffnungen. Ihm schrieben sie zu Weihnachten 2010 einen Brief, und den vertrauten sie nicht der offiziellen Vatikan-Post an. Der Bruder des Papstes überbrachte ihn persönlich. Ganz ohne Diplomatie geht es nicht, auch und gerade bei Heiligsprechungen! Erstaunlich schnell kam das Verfahren in Gang.
Im Mai 2011 wurde Hildegard von Bingen in den offiziellen Heiligenkalender der Katholischen Kirche aufgenommen. Im Oktober des gleichen Jahres zur Kirchenlehrerin ernannt. Und das Wunder? Der Papst nahm`s locker. Ja, ist es denn kein Wunder, dass sich mehr als 800 Jahre nach ihrem Tod, immer wieder Menschen von Hildegards schöpfungsorientierter Theologie in Bann schlagen lassen? Zu den Gottesdiensten in ihren Klöstern wallfahrten? Sich von der Mystikerin, die das Leben nicht floh, sondern liebte, den Weg weisen lassen? Eine Dimension von Frömmigkeit wurde da sichtbar, die nicht abschließt, sondern aufschließt. „Alles, was in der Ordnung Gottes steht, antwortet einander“, sagt Hildegard. Manchmal auch über Jahrhunderte hinweg.