„Wir gehen, der Stein bleibt!“
Beim diesjährigen Ehemaligentreffen meines Abiturjahrgangs habe ich unseren Abiturstein im Pausenhof der Schule wieder gefunden. Das ist eine Art Gedenkstein, den wir damals beschrieben haben. Mit diesen Worten: „Wir gehen, der Stein bleibt!“ Und wie wir gegangen waren! Einige haben studiert, Ausbildungen absolviert oder Weltreisen gemacht. Viele haben geheiratet und Kinder bekommen, nicht wenige sind schon wieder geschieden, leben in Partnerschaften mit und ohne Kinder, im Inland oder im Ausland. Einige haben Karriere gemacht, andere haben berufliche Rückschläge erlitten. Erfolge und Verluste haben alle schon erlebt. Und der Abiturstein ist die ganze Zeit am gleichen Platz geblieben und bezeugt beharrlich, dass ich und die anderen dort Schülerinnen und Schüler waren, dass die Schule lange Zeit unser Lebensmittelpunkt war und uns geprägt hat, ob wir das nun wollten oder nicht.
Ich stand vor dem Stein, und Erinnerungen wurden wieder wach: an die ausgelassene Abiturfeier, an Freundschaften und die erste Liebe, an Lehrerinnen und Lehrer, die mir wichtig waren und die mich geprägt haben, an Konflikte in der Klasse und Stress bei Klausuren, an Klassenausflüge und nächtliche Abenteuer. Die Bilder tauchten vor meinem inneren Auge wieder auf, obwohl ich lange Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte. Der Abiturstein ist für mich an dem Tag zum lebendigen Stein geworden. Er ist das Fundament meiner Erinnerungen, die los gesprudelt sind, als ich die Steinplatte wieder gesehen habe.
„Wir gehen, der Stein bleibt!“ Und genauso war es. Wir sind voller Hoffnung gegangen, euphorisch, stolz das Abitur geschafft zu haben. Die Welt stand uns offen. Nun haben wir uns nach langer Zeit wieder getroffen, und die Welt sah nüchterner aus. Vernarbter durch Rückschläge, Verluste, Ecken und Kanten, aber vielleicht auch gelassener und ruhiger. Der Abiturstein hat mir gezeigt, dass wir Ehemaligen eine gemeinsame Vergangenheit haben, auch wenn unsere Gegenwart ganz verschieden aussieht.
Wir teilen Erinnerungen und Geschichten, die der Stein in sich trägt und bezeugen kann. In gleicher Weise bewahrt er unsere Hoffnungen und Träume von damals. Und er hält auch den Zuspruch lebendig, den ich von meinem damaligen Religionslehrer erinnere: „Egal, wohin euch euer Weg hinträgt und was ihr erleben werdet: Gott ist mit euch und begleitet euch mit seinem Segen!“