Wie einst Hiob
Bertha schminkt sich immer, wenn sie das Haus verlässt. Genauer gesagt: Bertha lässt sich schminken. Sie kann nämlich ihre Hände nicht mehr bewegen. Und ihre Beine auch nicht. Bertha ist jetzt fast sechzig Jahre alt und leidet seit vielen Jahren schon an Multipler Sklerose, einer Entzündung des Nervensystems. Die Krankheit kommt in Schüben und lähmte erst ihre die Beine, später dann die Arme. Alleine kann sie gar nichts mehr machen. Rund um die Uhr hat sie Helfer im Haus: Ihren treuen Mann, die beiden Söhne, und viele Schwestern und Haushaltshilfen, die kochen und sauber machen, Bertha anziehen, sie in den Rollstuhl setzen und mit ihr spazieren gehen. Bevor Bertha aber ihr Haus verlässt, hat sie immer noch eine besondere Bitte: Ein wenig Puder auf die Wangen, etwas Lippenstift und Parfum. So viel Zeit muss sein. Das ist sich Bertha wert.
Ich bewundere Bertha dafür. Sie ist sich etwas wert, lässt sich nicht gehen. Manche werden vielleicht denken: Muss das denn sein, dass sich eine Kranke auch noch schminken lässt? So habe ich auch erst gedacht. Heute aber denke ich: Ja, das muss sein. Das ist Ausdruck ihrer Würde. Bertha ist ja nicht nur krank, sie ist vor allem eine Frau. Bertha will nicht nur die Kranke im Rollstuhl sein, sondern auch die Frau, die etwas auf sich hält. Geduldig wartet sie, bis sie warm angezogen ist, ihre Schuhe anhat und die dicke Wolljacke. Dann kommt der Moment, den sie besonders gerne mag. Die junge Frau, die gerade bei ihr ist, kämmt Bertha schön die Haare, streicht mit dem Pinselchen Puder auf die Wangen, dann Farbe auf ihre Lippen und gibt noch ein paar Spritzer Parfum an die Kleidung. Und dann geht’s hinaus zum Spaziergang.
So viel Zeit muss sein. Zeit für Würde. Kranke sind nicht einfach nur krank, sondern vor allem Menschen. Menschen, die - wie Gesunde ja auch - gut aussehen und gut riechen wollen. Als trotzten sie so ihrer Krankheit. Als sagten sie jeden Tag einmal: Ich kann mich zwar nicht mehr bewegen, aber ich bleibe doch ein Mensch. Dazu muss man im Geist sehr stark sein, auch wenn Bertha körperlich ja sehr
schwach ist. Und im Geist ist Bertha eben sehr stark. Ihr Geist wird sogar immer stärker, je schwächer ihr Körper wird. Sie fühlt die Schwäche des Körpers, aber der Geist lehnt sich dagegen auf. Das ist es, was sie noch hat: ein wenig Trotz und viel Würde des Geistes. Damit steht sie manchmal Gott gegenüber wie einst Hiob und sagt sich: Ich weiß nicht, Gott, warum du tust, was du tust. Du kannst mir Krankheit schicken, Gott, aber meine Würde kannst du mir nicht nehmen. Dafür, sagt Bertha, will ich schon sorgen. Und sei es mit ein wenig Farbe auf den Wangen.