Treffen der Generationen
„Was machen denn die alten Leute in der Schule?“ Das hat mich jemand aus meinem Vogelsberger Dorf gefragt. Er hatte beobachtet, dass jeden Montagvormittag alte Menschen aus dem Dorf mit ihren Rollatoren zur Schule fahren. Da stehen dann in der Eingangshalle diese Rollatoren wo sonst Roller und Stiefel der Kinder stehen. Es ist schon ein ungewohnter Anblick in einer Schule für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Doch das hat seinen Grund. Eine Stunde lang sitzen zwölf alte Menschen mit mir auf Stühlen in einem Kreis. Ich leite zur körperlichen Gymnastik an, zum Erzählen und zum Gedächtnistraining. Wir nennen uns Moment- Gruppe, das meint motorisches und mentales Training. So gut es geht bewegen wir nicht nur die Finger und die Arme, die Beine und die Schultern, sondern auch unseren Geist.
In die Mitte des Stuhlkreises lege ich immer irgendetwas – Blumen, die gerade im Garten blühen, Äpfel oder Nüsse, die geerntet worden sind, eine Weihnachtskerze oder eine alte Kaffeemühle. Das hat seinen Sinn. Das Ding, das in der Mitte liegt und das alle sehen, regt zum Erzählen an. Liegt ein Stück Kernseife in der Mitte, erzählen alle, wie früher in ihrer Kindheit und Jugend die Waschtage waren. Jemand erzählt, wie er barfuß in einer dunklen Waschküche gestanden und mit den Händen die Wäsche über ein ruppeliges Waschbrett gequält hat. Da gab es noch keine Waschmaschine mit siebzehn Programmen – alles ging per Hand. Bei der alten Kaffeemühle erzählt einer wie sie nach dem Krieg Gerstenkörner gebrannt haben, weil’s keinen richtigen Kaffee gab. Ich bin froh, dass wir uns hier treffen, hat kürzlich jemand gesagt. Ich sitze oft genug alleine in meiner Wohnung und gucke Löcher in die Luft.
Sich begegnen, zusammen sein, etwas tun und erzählen tut gut. Auch die Kinder in der Schule freuen sich. „Heute sind die alten Leute wieder da“, sagen sie. Sie gucken neugierig was wir machen. Manchmal bleibt ein Kind dabei und macht mit. So begegnen sich Alte und Kinder aus dem Dorf. Die Begegnung ist nicht inszeniert wie ein Seniorennachmittag im Advent, Lametta behangen und mit Gebäck und einem Flötenkinderchor. Sie begegnen sich im Alltag. Ein Mädchen sieht, dass seine Oma dabei ist, ein Junge erkennt die alte Frau aus der Nachbarschaft. Und die alten Menschen lernen umgekehrt die Kinder kennen: „Weißt du welches Kind das ist?“ wird manchmal gefragt; wo wohnt es, aus welcher Familie stammt es? Und sie erleben, wie Schule heute gemacht wird – ein bisschen anders als zu ihrer Schulzeit. Davon wird dann auch erzählt.
Ich glaube, es ist wichtig, dass sich die verschiedenen Generationen im Alltag begegnen und Gemeinsamkeit erleben. Henning Scherf, der frühere Oberbürgermeister von Bremen wirbt für das Leben in Wohngemeinschaften mit alten Menschen: er lebt selbst so. Von ihm habe ich gehört: Die schönsten Tage sind, wenn uns die Enkel sie besuchen. Dann sind wir zwar hinterher etwas müde und genervt, aber doch glücklich. Das kann ich verstehen, denn wenn alte Menschen Kinder erleben, weckt das nicht nur eigene Kindheitserinnerungen, sondern auch das Gefühl, das Leben geht weiter. In der Begegnung mit den Kindern liegt ein Stück Versöhnung mit dem eigenen Alter.