Tim
Als Tim auf die Welt kommt, ist Kerstin überglücklich. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste. Sie war beruflich erfolgreich, im Personalmanagement eines großen Unternehmens. Sie hatte gelernt, sich mit ihren Ellenbogen in einer Männerwelt durchzusetzen. Dann war Tim da, und Kerstin wurde Mutter, mit Herz und Seele. Im ersten Jahr blieb sie zuhause. Als Tim ein Jahr alt ist, steigt sie wieder ein, aber nur halbtags. Ihre Karriere hat sie aufgegeben.
Wer Tim sieht, dem fällt auf, dass er einen ziemlich großen Kopf hat. Aber sonst sieht er aus wie ein normales Baby. Doch Kerstin merkt nach und nach, dass etwas mit Tim nicht stimmt. Wenn sie ihn mit anderen gleichaltrigen Kindern vergleicht, dann hinkt er hinterher. Er reagiert weniger und kann erst spät nach Gegenständen greifen. Nach einem halben Jahr hält er seinen Kopf noch nicht selbstständig. Die Ärzte sind ratlos. Kerstin muss mit Tim jeden Tag dreimal turnen, damit seine Muskeln in Schwung kommen. Nach einem Jahr kann Tim immer noch nicht sitzen, auch an seinem zweiten Geburtstag kann er weder krabbeln noch laufen. Inzwischen wissen Kerstin und ihr Mann Sven durch einen komplizierten Bluttest, dass ihr Kind einen seltenen Gendefekt hat. Ob er jemals laufen und reden kann, ist unklar.
Tim ist ein fröhliches Kind. Er kann sich auf dem Boden hin und her kullern und laut glucksen vor Lachen. Er strahlt vor Freude, wenn sein Vater nach Hause kommt. Er wird lange noch mehr Hilfe brauchen als andere. Vielleicht auch noch, wenn er erwachsen ist. Kerstin stellt sich inzwischen viele Fragen über das Leben: „Wann ist ein Leben lebenswert?“ Und: „Warum beurteilen wir Menschen oft nur nach ihren Leistungen?“ Eine Ahnung von Antworten hat sie nach und nach gefunden, in langen Gesprächen mit Sven und vielen Freunden. Sie sagt jetzt: „Um glücklich zu sein, muss man nicht unbedingt laufen können. Lieben und geliebt werden, beides kann man auch so.“
Sie meint: Ob Tim sich in der Gesellschaft zuhause fühlt, liegt an den Menschen um ihn herum. Es tut Kerstin und Sven gut, dass der Kinderarzt gesagt hat: „Tim hat sich genau die richtigen Eltern ausgesucht: Eltern mit Liebe und Kampfgeist und Humor.“
Diese Vorstellung hat Kerstin geholfen. Sie stellt es sich so vor, dass Gott da oben vor der Geburt Eltern für Tim gesucht hat: Eltern, die Tim lieben, egal, was er kann oder nicht kann.“ Wenn Kerstin das erzählt, spürt man, dass das nicht leicht daher gesagt ist. Sie sagt: „Früher habe ich mir nie vorstellen können, ein behindertes Kind zu haben! Jetzt denke ich irgendwie ganz anders. Vielleicht wollen wir sogar ein zweites Kind!“