hr2 ZUSPRUCH
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von Winterfeld, Charlotte

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Telefonseelsorge

Telefonseelsorge

Meine Tante genießt ihr Leben. Glaube ich zumindest. Klar, es ist nicht immer einfach, allein zu leben. Vor 20 Jahren ist ihr Mann gestorben. Aber sie macht das Beste draus. Sie hütet oft genug ihre zahlreichen Enkelkinder. Sie geht viel ins Theater und ins Kino, spielt Tennis, geht mit Freundinnen brunchen oder in die Sauna und unternimmt interessante Reisen. Sie legt Wert auf ihre schlanke Linie und auf modische Kleidung. Mir hat sie mal den Tipp gegeben: „Iss nicht so viel, rauch lieber eine!“ Als ich Pfarrerin wurde, hat sie gesagt: „Ach, du Arme, dann findest du ja nie einen Mann!“ Und: „Ach, wie gut, dann kann ich aus der Kirche austreten, ich habe ja jetzt jemanden, der mich beerdigt!“ Aber sie ist dann doch nicht ausgetreten.

Wenn man mit ihr zusammen ist, gibt es immer viel zu lachen. Kein Thema ist ihr peinlich. Ungeduldig gibt sie einem gute Tipps für jede Lebenslage und weiß meistens alles besser. Manchmal bewundere ich sie, weil sie so unglaublich lebensfroh ist. Vor kurzem hat sie ihren 70.Geburtstag gefeiert und hat aufgehört, als Sekretärin zu arbeiten.

Am Telefon hat sie mir erzählt, dass sie jetzt eine Ausbildung für die Telefonseelsorge macht. Die wollten sie dort erst ablehnen: „In Ihrem Alter lohnt sich das doch nicht mehr!“ Aber sie haben sie dann doch genommen. Jetzt besucht sie Kurse, denkt über sich selbst nach, lernt viel über Psychotherapie und hospitiert regelmäßig, auch morgens um 7 Uhr oder nachts. Sie muss lernen, keine schlauen Ratschläge zu geben, sondern in allererster Linie zuzuhören. Zuerst habe ich gedacht: Telefonseelsorge, das passt doch gar nicht zu ihr. Traurigen und einsamen Menschen in Not zuhören, wie soll das gehen bei ihrem Temperament? Warum macht sie das?

Aber vielleicht täuscht auch mein erster Eindruck und ich muss meinen Blick auf meine Tante etwas revidieren. Denn irgendwie passt es schon. Ich stelle mir vor, wie sie jetzt am Telefon in der Zentrale sitzt. Mit ihrem großen Interesse an Menschen, mit ihrer Lebenserfahrung, mit ihrer zupackenden Art. Sie hat sich immer gern für andere eingesetzt und daraus Kraft gezogen. Und meine Tante hat schon richtig Schreckliches erlebt: eine kaputte Ehe, Stress mit ihren Kindern und Pflegekindern, plötzliche Todesfälle. Sie hat ihren Humor trotzdem nicht verloren.

Da frage ich mich: Wer kann eigentlich gut für meine Seele sorgen? Natürlich brauche ich Menschen, die mir zuhören. Aber genauso brauche ich Menschen, die mich anstecken mit ihrer Lebensfreude. Vielleicht färbt die Art meiner Tante ja ab auf die Menschen, die dort anrufen und Hilfe brauchen. Ja, wenn ich richtig drüber nachdenke, dann braucht die Telefonseelsorge genau solche Leute wie meine Tante. Klar, das Zuhören muss sie vielleicht noch ein bisschen üben. Aber sonst denke ich: Gott stellt die Menschen schon an den richtigen Platz.