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Eine Sendung von

Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz

Tag der deutschen Einheit

Tag der deutschen Einheit

Am Tag der Deutschen Einheit denke ich an eine Freundin von mir, deren Familie aus Ost- und Westdeutschland kommt. Fast jedes Jahr ist der Feiertag Anlass für ein Familientreffen, wie sie mir erzählt hat. Die eine Hälfte der Familie kommt aus einem Brandenburger Dorf. Die andere Hälfte lebt schon lange in Hessen, meine Freundin in Frankfurt. Im letzten Jahr hat sie die ganze Familie dorthin eingeladen. Bei Kaffee und Kuchen kam das Gespräch auch auf den Tag der Deutschen Einheit.

„Ich bin glücklich, dass die Mauer weg ist und die DDR-Diktatur vorbei ist“, begann der Onkel meiner Freundin. „Ich muss keine Angst mehr haben, dass mich jemand bespitzelt und ich kann in den Urlaub fahren, wohin ich will. Aber zum Feiern ist mir trotzdem nicht so recht zumute. Dafür ist unsere Ostrente viel zu klein. Davon kann man doch kaum leben!“ Sein Sohn sah die Wende ohne Einschränkung positiv: „Ich finde das immer noch Wahnsinn. Niemand hat damit gerechnet, dass die Mauer jemals fallen würde. Ich bin ja selbst nach Berlin gefahren, um mich davon zu überzeugen. Das war wie ein Wunder. Mir läuft heute noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Und nun habe ich einen guten Job im Rhein-Main-Gebiet. Ich bin zufrieden.“

„Aber der 3. Oktober ist trotzdem kein besonders aufregender Tag“, fügte die Tante hinzu. „Politiker haben den Vertrag zur Deutschen Einheit unterzeichnet. Das musste wohl so sein. Aber begeisternd war das nicht. Es war ja kein Vertrag auf Augenhöhe. Ich hatte den Traum, dass es ein gerechteres Deutschland jenseits von DDR und BRD geben könnte. Aber daraus ist nichts geworden.“ „Na Gott sei Dank!“, erwiderte der Vater meiner Freundin schroff. „Das waren ja alles nur naive Flausen. Die BRD war finanziell stark und die DDR war bankrott. Es konnte nur so gehen. Aber dass wir bis heute noch einen Solidaritätszuschlag zahlen müssen, während manche westdeutsche Kommunen ohne Soli immer ärmer werden. Das ist ungerecht und ärgert mich.“ Meine Freundin schaute als Gastgeberin von einem Familienmitglied zum anderen. Einmal mehr konnte sie sich von den unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven in ihrer Familie überzeugen. Sie zeigten ihr, warum der Tag der deutschen Einheit ein so zwiespältiger Tag ist.

Für mich ist die Begeisterung der Menschen in Ost und West am deutlichsten im Gedächtnis geblieben. Damals wurde überall gefeiert, Gottesdienste wurden gehalten, es wurde diskutiert und darum gerungen, wie es weiter gehen sollte. Aber vor allem waren die Menschen dankbar und stolz, dass alles friedlich verlaufen war. Die Zivilcourage der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland und in Osteuropa hatte gesiegt. Dieses Vermächtnis zählt. Ältere und Jüngere, Menschen aus Ost- und Westdeutschland, Migrantinnen und Ausländer beteiligen sich bis heute jeden Tag daran, die Deutsche Einheit mit Leben zu füllen. Der Tag der Deutschen Einheit war nur ein kleiner Schritt auf einem Weg, auf dem wir uns immer noch befinden.

Ich finde es wichtig, die kleinen und großen Schritte auf dem Weg im Gedächtnis zu behalten. Sie waren begeisternd, schmerzhaft, ungerecht, erfolgreich, aber keinesfalls selbstverständlich. Der Feiertag symbolisiert dies stellvertretend. Ich denke heute gerne an die friedliche Revolution zurück. Ich danke für den mutigen Einsatz der Menschen damals und bete für Besonnenheit für unsere Zukunft mitten in und gemeinsam mit Europa und der Welt. Die deutsche Einheit in ihrer Vielfalt: das werde ich heute feiern.