Semper reformanda
Die Kirche war brechend voll am Reformationstag. Eine Kirche mitten in der Frankfurter Innenstadt. Den Gottesdienst hielt eine Pfarrerin in hoher kirchenleitender Funktion. Mit klaren Worten und heller Stimme machte sie den Perspektivwechsel deutlich, den die Reformation für den einzelnen Christen bedeutet. Nicht mehr über die Kirche und gute Werke geht der Weg zu Gott, sondern allein über den Glauben. Den Glauben, dass Gott uns in Jesus Christus eine Hand gereicht hat, die uns hinüber ziehen will. Es war nicht nur die gute Botschaft, die mich froh machte. Es war und ist es immer wieder aufs Neue auch die Freude darüber, dass Frauen in der evangelischen Kirche heute so selbstverständlich ihren Platz auf der Kanzel einnehmen und dass dies von den Gemeinden so angenommen wird.
Den Jüngeren wird gar nicht mehr bewusst sein, dass diese Akzeptanz hart erkämpft werden musste und dass es ein langer und oft bitterer Weg war. Denn auch im protestantischen Bereich gehörte die Geistlichkeit zu denjenigen, die die alte Geschlechtsrollen-Fixierung am hartnäckigsten verteidigten. „Warum wollen Sie als Frau partout das können, was die Männer genauso gut, vielleicht noch besser können als Sie?“ schrieb ein württembergischer Oberkirchenrat vor fünfzig Jahren an eine junge, verheiratete Theologin, die sich um Aufnahme ins Pfarramt bewarb. Und er schrieb weiter: „Warum verdrängen und versagen Sie sich das, was die Männer nicht können, nämlich Kinder kriegen? In ein paar Jahren werden sich die Pfarrer auf den Zehen herumtreten. Niemand wird dann daran interessiert sein, auch noch Frauen im Pfarramt zu beschäftigen. Ihrer Berufstätigkeit wird die öffentliche Anerkennung ganz und gar versagt bleiben…“
Nun, es ist anders gekommen. Gottlob ist es anders gekommen. Nicht nur im dienstlichen Bereich - Frauen stellen rund ein Drittel der protestantischen Pfarrerschaft, Tendenz steigend. Nein, auch im häuslichen Bereich. Die Ehefrau des Pfarrers bringt heute in aller Regel einen eigenen Beruf mit ein und übt den auch aus. Die Kinderzahl ist deutlich gesunken. Die Zahl der Ehescheidungen gestiegen. Die Tür des Amtszimmers steht nicht mehr ganztägig offen, man wird gebeten, sich an die Dienststunden zu halten. Selbst das große alte Pfarrhaus, meist gleich neben der Kirche, hat an Attraktivität verloren. „Pfarrers“, zu denen inzwischen auch Singles und Paare in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft gehören, wohnen heute lieber in einer ganz normalen Etagenwohnung und nicht unbedingt in Rufweite der Kirche. Mit anderen Worten, der Mann oder die Frau auf der Kanzel lebt auch nicht anders als wir übrigen. Mein Vertrauen in sie ist darum nicht weniger, sondern eher mehr geworden. Wir sitzen im gleichen Boot und hoffen auf den himmlischen Steuermann.
Doch schon hör` ich den Protest. War nicht das evangelische Pfarrhaus in seiner charakteristischen Verbindung von Häuslichkeit und Wort-Mächtigkeit über Jahrhunderte eine Wiege der Dichter und Denker? Schon wahr. Aber wir vergolden damit auch vieles, was durchaus problematisch war. Das Bündnis von Thron und Altar zum Beispiel. Das theologisch unterfütterte Festhalten an Geschlechtsrollen und Lebensformen. Eine wenig geschwisterliche Theologie. Die Gestalt der Kirche ist im Evangelium nicht festgeschrieben. Und darum bleibt sie, wie die Reformatoren es ausdrückten, eine Kirche „semper reformanda“, eine immer wieder zu erneuernde.