Repressionen sind nicht alles, China verändert sich rasant
Gestern ist Liao Yiwu in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden. Es ist gut, dass dieser Reporter und Poet der Unterdrückten zumindest außerhalb von seinem Heimatland China große Anerkennung erhält. Die Medien zeigen derzeit, wie hart die chinesische Staatsgewalt gegen Kulturschaffende vorgeht, die Kritik am System üben. Auch in Sachen Religion gibt es wenig Freiheit. Die Kulturrevolution hat ein antikirchliches und antireligiöses Klima geschaffen, das bis heute anhält. Die chinesische Führung verbreitete den Satz von Karl Marx „Religion ist Opium des Volkes“. Und auch Lenins Version „Religion ist Opium für das Volk“ ist populär. Aber das ist nicht alles.
Zugleich gibt es in China Theologische Seminare, in denen Pfarrerinnen und Pfarrer ausgebildet werden. Der Leiter des Theologischen Seminars in Shanghai hat ein Buch mit Interviews herausgebracht: 100 Gespräche mit prominenten chinesischen Unternehmern, die Christen sind und über ihren Glauben sprechen.
Das Land hat sich sehr verändert. Chinesische Jugendliche wachsen seit einiger Zeit in einem kapitalistischen China auf. Geld ist der Faktor, der über Glück im Leben entscheidet. Wer wollte auch etwas dagegen sagen, dass der größte Wunsch einer chinesischen Mittelstandsfamilie ein eigenes Haus ist, und wenn das nicht geht, ein Auto? Zugleich suchen die Menschen durchaus auch jenseits vom Geld nach dem, was sie in ihrem Leben orientiert. Dabei ist nicht selten das Christentum attraktiv. Mit einem jährlichen Zuwachs von einer Million Mitgliedern gehören die protestantischen Kirchen in China zu den am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften weltweit. Neben den registrierten Gemeinden gibt es unzählige, nicht von staatlichen Behörden erfasste Gemeinden. Sie werden Hauskirchen genannt. Zumeist werden sie geduldet, befinden sich aber in einer Grauzone. In einigen Regionen werden die Gemeinden von den örtlichen Behörden schikaniert und Repressalien ausgesetzt. Denn der chinesische Staat ist sich bewusst, dass Religion, zumal das Christentum viel Zulauf erhält. Hier werden Menschen in ihren individuellen Bedürfnissen und ihrer moralischen Entwicklung gestärkt, die christlichen Gemeinden engagieren sich immer mehr im sozialen Bereich und für den Umweltschutz. Das verschafft ihnen auch gesellschaftlich immer mehr Zustimmung.
Anfang November wird es in China einen Regierungswechsel geben. Viele Menschen hoffen darauf, dass staatliche Kontrollen gelockert werden und die Religionspolitik liberalisiert wird. Fest steht, dass der kulturelle und politische Umbau, die Demokratisierung viele Kräfte braucht. Religion kann einen Teil dazu beitragen. Er liegt aus meiner Sicht vor allem in einem regen Erfahrungsaustausch. Zum Beispiel zwischen Kirchen hier und dort und auch zwischen den Theologischen Fakultäten in China und bei uns. Das sind alles Mosaiksteine, die hoffentlich dazu beitragen, dass Menschen wie Liao Yiwu immer weniger leiden müssen. Mehr noch, dass ihre Werke endlich auch in ihrem Land anerkannt werden.