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Schoen, Dr. Ursula

Eine Sendung von

Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Mein Großvater mochte keine Milch – Ein Kind im Ersten Weltkrieg

Mein Großvater mochte keine Milch – Ein Kind im Ersten Weltkrieg

Mein Großvater mochte keine Milch. Während wir beim Abendessen gläserweise kalte Milch in uns hinein gossen, nippte er an seiner Teetasse und lehnte jeden Genuss von Milch ab. Irgendwann wagte einer zu fragen: Warum trinkst Du eigentlich keine Milch? Er erzählte uns, dass während eines Hungerwinters im ersten Weltkrieg eine Ziege im Arbeitszimmer seines Vaters gehalten worden war. Sie sollte die Kinder mit Milch versorgen. Ihr Gestank erfüllte bald das ganze Haus. Und nun stieg meinem Großvater beim Anblick von Milch immer der Ziegengeruch in die Nase.

Mein Großvater erzählte diese Geschichte fesselnd, wie er überhaupt ein großartiger Geschichtenerzähler war. Ich dachte als Kind: das Leben meines Großvaters muss eine Abfolge ungewöhnlicher und amüsanter Ereignisse gewesen sein. Nur ganz selten schienen in seinen Berichten dunkle Untertöne auf.

Seine Kinder, darunter meine Mutter, liebten diese leichtfüßige Berichterstattung ihres Vaters gar nicht. Als ich älter wurde, spürte ich, wie ungeduldig sie wurden,  wenn ihr Vater anfing zu erzählen. Er war lange abwesend, im Krieg und danach in der Kriegsgefangenschaft. Er war zu einem Fremden für sie geworden. Nun wollten sie keine lockeren Anekdoten hören, sondern erfahren, was er in den Jahren der Trennung erlebt hatte. Wollten das hören, was sie „die Wahrheit“ nannten.

Er hat sie ihnen nicht erzählt und uns Enkeln auch nicht. Bis zu seinem Tod blieb er uns zugewandt, aber im Grunde verschlossen. Erst als ich mich später mit seinem Leben beschäftigt habe, habe ich mich den belastenden Wahrheiten dieses Lebens genähert. Eine davon gehörte in jenen Hungerwinter. Damals war nämlich nicht nur eine Ziege im Haus gehalten worden. Vor allem war seine Mutter an den Folgen einer schweren Infektion gestorben. Anderes lässt sich aus geschichtlichen Dokumentationen und Berichten von Zeitzeugen erschließen. Das ergibt ein Lebensbild zwischen tief greifendem Schmerz und ungelöster Schuld. Viele Kriegsbiographien in Deutschland kennzeichnet das.

Ob mein Großvater über die dunklen Seiten Lebens nicht sprechen konnte? Oder nicht wollte? Ich weiß es nicht. Sicher ist, dass die Kehrseite dieses Schweigens große Einsamkeit war. Spürbar war aber, dass er durch uns Enkel Kraft gefunden hat, an eine Zukunft zu glauben. Mit uns konnte er eine Geschichte beginnen, die ihm mit seinen Kindern verwehrt worden war.

Wenn ich heute ein Glas Milch trinke, denke ich gelegentlich an meinen Großvater und natürlich an die Ziege. Aber mir erscheint kein dunkles Bild mehr, sondern ein gedeckter Tisch mit einem lachenden Großvater.