Marthas Stärke
Wir waren eine große Familie und es war selbstverständlich, dass wir Kinder zu häuslichen Dienstleistungen herangezogen wurden. Von Abtrocknen bis Zimmer machen. Ich aber hockte lieber hinter den Büchern, versteckte mich oft damit auf dem Dachboden, und tat so, als hörte ich nicht, wenn man nach mir rief.
„Hilf eine bisschen mit. Drück dich nicht immer“.
Und dann wurde im Kindergottesdienst die Geschichte von Maria und Martha erzählt.
Zu finden bei Lukas.
Jesus zieht mit seiner Schar durchs Land, kommt in ein Dorf und findet dort Aufnahme bei einer Frau mit Namen Martha. Die gibt sich nun alle Mühe, die Gäste zu bewirten – und jede Hausfrau weiß, was das an Arbeit bedeutet. Ihre Schwester Maria aber ist nicht bereit, sie dabei zu unterstützen, sondern setzt sich zu Jesus und seinen Jüngern, um ihm zuzuhören. Martha beklagt sich daraufhin bei Jesus und erhält eine Antwort, die sie geschmerzt haben muss. „Martha, Martha, Du hast viel Sorge und Mühe. Maria aber hat das gute Teil gewählt und das soll nicht von ihr genommen werden.“
Ich traute damals meinen Ohren nicht. Maria, die in der Küche nicht helfen wollte, hatte in Jesu Augen die richtige Entscheidung getroffen? Durfte das denn wahr sein?
Meine Unlust an den praktischen Dingen des Alltags erschien plötzlich in einem anderen Licht.
Und doch beschlich mich schon damals ein mulmiges Gefühl. Wurde Marthas Einsatz hier nicht allzu sehr abgewertet? Hingen wir Kinder nicht durchaus davon ab, dass meine Mutter eben nicht in einem Studierzimmer voller Bücher saß wie mein Vater? Wer wollte sich eine Welt ohne Martha vorstellen?
Ich bestimmt nicht.
Doch die Bibel weiß noch eine andere Geschichte von Martha zu erzählen. Die steht bei Johannes und handelt vordergründig von der Auferweckung des Lazarus, der ein Bruder von Martha war. Und wer hat diese Auferweckung initiiert? Niemand geringeres als Martha, die nach Jesus geschickt hatte, als der Bruder im Sterben lag. Er war gestorben bevor Jesus kam. Martha glaubt nun unerschütterlich an Jesu Fähigkeit, ihn aus dem Grab zu den Lebenden zurückzuholen. Sie gibt dabei ein Christuszeugnis ab, das auf einsamer Höhe steht im Neuen Testament. „Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“
Nur einer noch gibt im Neuen Testament ein fast gleichlautendes Zeugnis ab. Das ist Petrus (Mt 16/16), und auf dieses Petrusbekenntnis baut sich die ganze Kirche auf. Noch heute verstehen sich die Päpste als Nachfolger Petri. Und Marthas Christuszeugnis? Gilt das gar nichts?
Es ist in meiner Bibel nicht einmal fettgedruckt, also als zentral hervorgehoben, was beim Petrus-Wort natürlich der Fall ist. Hat das am Ende damit zu tun, dass hier „nur“ eine Frau spricht?
Wir aber sollten die beiden Martha-Zeugnisse zusammen denken. Dann wird aus der Schutzpatronin der Hausfrauen, Kellnerinnen und Dienstmägde eine Führungskraft: belastbar, hartnäckig, realitätsbewusst und überzeugungsstark. Es ist Zeit für ein neues Martha-Bild. Nicht nur in der Kirche.