Lebe dein Leben selbst
Jürgen zeigte früh, dass er gerne Verantwortung übernahm. Z.B. indem er für seine Geschwister kochte, wenn die Eltern nicht da waren. Als junger Mann fuhr er einmal in ein Erdbebengebiet, um vor Ort mitzuhelfen. Er wollte unbedingt studieren, um später die Gesellschaft mit zu gestalten. Er war ein sportlicher junger Mann und körperlich gerne aktiv. Als er 25 Jahre alt war, erlitt Jürgen einen schlimmen Unfall. Er kam beim Trampolinspringen unglücklich auf. Von da an war er ab dem Hals abwärts gelähmt. Dieser Katastrophe führte dazu, dass er später von zwei Leben sprach. Dem ersten das endete, dem zweiten, das begann. Er fragte sich, ob er dieses zweite Leben überhaupt wollte. Er fand zu einem Ja.
In diesem zweiten Leben hat er viel erreicht. Er lernte wieder selbständig zu atmen. Er lernte mit einem elektrischen Rollstuhl umzugehen. Er wollte weiterstudieren und nicht in ein Pflegeheim. Er fand Menschen, die bereit waren, ihm bei den Dingen zu helfen, für die man Hände und Arme braucht. Er hatte Talent, andere anzuleiten. Seine Freunde sagen es so: wenn wir uns zum Kochen trafen, dann war klar: Jürgen hat gekocht, auch wenn wir alle geschnippelt, gewürzt und gerührt haben. Er war der Gastgeber. Man fühlte sich in seiner Gegenwart nicht wie einer, der sich kümmern muss. Es war ein Miteinander auf Augenhöhe. Jürgen war ein lebensfroher Mann, er reiste viel, und war mit seinem speziell umgebauten Bus selbständig unterwegs.
Er verliebte sich neu, und warb mit viel Kreativität um seine spätere Lebensgefährtin. Sie wurde nicht seine Pflegerin, sondern seine Partnerin. Er machte anderen Mut, die in einer ähnlichen Lage waren. Und er engagierte sich im Stadtparlament für die Bedürfnisse behinderter Menschen. Sein Leben zeigt, wie viel man erreichen kann, auch wenn man erleben muss, dass einem Wichtiges genommen wird. Das Leben ist reich - es ist dann immer noch ganz viel möglich.
Nach 28 Jahren im Rollstuhl endete Jürgens zweites Leben. Bei seiner Trauerfeier kamen viele Menschen zusammen, die beschenkt waren durch ihre Freundschaft mit Jürgen. Ich ahne, was er vielleicht vielen von ihnen geschenkt hat, wenn ich daran denke, was er mal in einem Interview zu Schülern sagte: „Trotz meiner Behinderung bin ich eigentlich ein ganz glücklicher Kerl.“ Ich weiß nicht, ob ich das so gemeistert hätte. Ich habe viel von Jürgen gelernt.