hr2 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Laufen für die Seele

Laufen für die Seele

Morgens schon vor sieben herrscht am Frankfurter Mainufer Hochbetrieb: Alles rennt, radelt, joggt, Nordic walkt, inline-skatet die Flusspromenade entlang. Teilweise dreispurig wuseln die Frühsportler wie Ameisen auf dem Weg. Als normaler Morgenspaziergänger muss man aufpassen, nicht unter die Räder bzw. unter die Beine zu geraten. Laufen ist wie ein Morgenritual. Noch bevor die Geschäftigkeit des Tages einen fest in den Griff nimmt, ganz für sich alleine sein, den Körper in Bewegung setzen und den Gedanken freien Lauf lassen.

Noch mit niemandem sprechen müssen, noch keine Pflichten und Termine erfüllen, noch nicht Kinder von A nach B bringen, noch nicht festgesetzt sein auf dem Bürostuhl vor dem Computer. Sondern den Körper vom Scheitel bis zur Sohle mit jedem Schritt durchschütteln und so den Kopf frei kriegen. Nur ich und mein Körper, das ist Freiheit, eine Auszeit, noch bevor der Tag losgeht.

Frank Hofmann, Chefredakteur einer Zeitschrift für Jogger, nennt das „spirituelles Laufen“. Er beschreibt es so: „Wenn ich in das für mich richtige Tempo komme, finden Körper, Geist und Seele zu einem einheitlichen Rhythmus, einer einzigartigen Harmonie zusammen, in der alles gemeinsam schwingt.“ (Quelle: „andere zeiten“, Heft 2/12, S. 19) Im besten Fall, so meint er, kann einem beim Laufen Gott begegnen.

Das klingt steil, ist aber eine uralte Menschheitserfahrung. Im antiken Griechenland hießt die Schule des Philosophen Aristoteles „peripatos“, Wandelhalle, nach dem Ort, an dem er mit seinen Schülern philosophiert hat. Beim Wandeln, beim Gehen kann auch der Geist Fortschritte machen. In der Bibel sind Menschen ständig in Bewegung  -  mal zum Fluch, mal zum Segen. Adam und Eva werden aus der Ruhe des Paradieses in die Rastlosigkeit der Welt vertrieben. Das Volk Israel wird von Gott aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt, wandert aber dann erst einmal vierzig Jahre lang durch die Wüste, bevor es das Gelobte Land erreicht. Jesus ist ein Wanderprediger. Er zieht mit seinen Jüngern von Ort zu Ort ohne festes Zuhause, ohne sicheren Ort, dafür offen für das, was ihm zwischen Himmel und Erde begegnet.

Nun, ich muss kein Wanderprediger werden. Auch nicht unbedingt ein Jogger. Ob beim Spaziergang mit dem Hund, ob als ein Recken und Strecken im Sessel oder zwischendrin eine Runde um den Block – es gibt viele Weisen, um sich eine Auszeit zu nehmen von dem, womit man sonst beschäftigt ist. Eine Unterbrechung, eine Zeitspanne am Tag für mich, meinen Körper, meine Seele, das hält mich am Laufen. Die Gedanken schweifen lassen über das hinaus, was unmittelbar vor mir liegt. Für mich gehört das zu einem guten Tagesverlauf: Mir täglich ein Stück offenen Himmel über mir und weiten Horizont vor mir gönnen. Und das, ob ich sitze, stehe, liege oder eben laufe.