Jeden Tag ein neues Blatt
Mein Mann ist Lehrer und unterrichtet das Fach Kunst. Wenn es darum geht, dass die Schülerinnen und Schüler zeichnen sollen, erlebt er oft, wie schwer es fällt, den ersten Strich zu setzen. Das weiße Blatt ist so leer. Wo fang ich an? Ich kenne das auch von mir. Ist die erste Linie aufs Papier gebracht, frage ich mich: Ist sie gut geworden? Hätte ich lieber wo anders anfangen sollen? Wenn die Schüler dann zum Radiergummi greifen wollen, um die vermeintlich missglückte Linie vom Papier zu tilgen, schreitet mein Mann als Lehrer ein. Da ist er rigoros. Radiergummis sind in seinem Unterricht verboten. Einmal hat er eins sogar aus dem Fenster geworfen.
Warum erlaubt er nicht zu radieren? Weil aus Sicht eines Kunstlehrers oder Kunstexperten eine Zeichnung nicht gelungen ist, wenn sie perfekt ist, sondern wenn sie lebendig ist. Beim Zeichnen werden wir nie die ideale Linie treffen. Und die vermeintlich falschen Linien sollen auf dem Blatt bleiben. Die Schüler in seinem Unterricht sollen einfach weiter zeichnen. Selbst wenn wir die perfekte Linie treffen würden, bliebe sie flach und zweidimensional. Aber die vielen Linien geben der Zeichnung Plastizität, lassen sie räumlich erscheinen. So gewinnt die Zeichnung Ausdruckskraft. Mutige, kräftige und freie Schwünge bringen Charakter in das Bild. Sie sind ausdrücklich erwünscht.
Wie wäre es, wenn ich einen Tag meines Lebens als solch ein unbeschriebenes Blatt Papier betrachten würde? Nach dem Motto: jeder Tag ist ein neues Blatt im meinem Skizzenbuch. Ich könnte mich zu Tagesbeginn, kurz bevor ich loslege, besinnen, auf was ich heute meinen Blick richten möchte. Welche Zeichnung soll es heute werden? Welches Motiv wähle ich, welche Aufgabe bietet sich an? Jede Linie, alles, was ich an diesem Tag tue, wird seinen Beitrag zum Gesamtbild leisten. Manches bringe ich vielleicht zögerlich aufs Papier, anderes mutig und energisch. Vielleicht sind Linien dabei, die ich als Ausrutscher bezeichnen würde.
Ein Radiergummi gibt es nicht. Jede Linie ist ein Teil meines Tagwerks. Wenn ich nach einigen Wochen und Monaten mein Skizzenbuch durchblättere, werden sich viele Zeichnungen aneinanderreihen. Und wenn mein erstes Skizzenbuch voll ist, und erst recht nach dem zweiten, dritten und vierten, werde ich geübter sein. Ich werde dann genauer wissen, worauf es mir ankommt. Ich habe dann begonnen, einen eigenen Stil zu entwickeln. Und jedes Blatt war ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.
Lebenserfahrung gewinne ich nicht nur durch das, was mir glückt, sondern auch durch die Fehler, die ich gemacht habe und durch die Irrwege, die ich gegangen bin. Deshalb ist es gut, auch mal was zu wagen. Dadurch gewinne ich Profil und zeige den anderen meinen eigenen Stil. Und wenn es mal danebengeht, ist es nicht so schlimm, denn morgen beginnt ein neuer Tag, und ich kann einen neuen Versuch wagen.