Heiliger Zorn
Ich war mit einer Wandergruppe in den Alpen unterwegs. Oben in den Bergen, umgeben von grünen Wiesen, kamen wir eines Morgens an einem besonderen Haus vorbei. Auf der Terrasse und im Vorgarten standen liebevoll ausgestellte Kunstwerke. Es waren kleine, geschnitzte Holzfiguren, liebevoll drapierte Blumenampeln, getöpferte Teller und Krüge. Wir hielten an, um alles zu begutachten. Da kam eine Frau aus dem Haus und sprach uns an. „Da begrüße ich tagein tagaus Wanderer, die auf ihrem Weg über die Alpen hier vorbeikommen! Manchmal spendiere ich ihnen sogar einen Kaiserschmarrn oder eine Runde Schnaps. Und dann sowas!“ Die Frau sprach weiter: „Ich bin zornig, ohne Ende zornig!“ Überrascht hörte unsere Wandergruppe der Frau zu.
Mit rotem Kopf stand sie vor uns und fuhr fort: „Gestern hat irgendjemand zwei Messingtöpfe von der Terrasse geklaut. Als hätten wir nicht genug Arbeit mit dem Bauernhof und den Kühen und allem. Mit unserer Kunst-Ausstellung wollen wir die Wanderer erfreuen und schenken ihnen auch mal was. Aber etwas davon stehlen, wenn wir auf Vertrauen setzen... nein, das geht zu weit! Ich gebe von Herzen gerne, aber stehlen ist Sünde. Du sollst nicht stehlen! So steht es schon in der Bibel. Jetzt muss ich das hier aufstellen.“ Die Frau hielt ein Holzbrett in der Hand, das sie beschrieben hatte: Bitte keine Gegenstände mitnehmen! Sie sagte: „Ich schäme mich, das Brett hier hinzustellen. Eigentlich ist das doch selbstverständlich. Aber was soll ich machen? Es ist Gottes Gebot, nicht zu stehlen. Und was tun die Menschen? Sie nehmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist, obwohl ich sie mit meiner Kunst beschenke. Nein, das habe ich noch nie erlebt!“
Wir hörten uns ihre Schimpftirade an und sagten erst einmal gar nichts. Wir kamen gar nicht dazu, so wütend war die Frau. Schließlich sagte eine Freundin aus unserer Wandergruppe: „Uns haben Sie mit Ihrem Garten eine Freude gemacht! Wir sehen, dass jede Figur mit Liebe dort hingestellt worden ist. Wer da etwas klaut, kann nicht recht bei Sinnen sein. Wir verstehen Ihren Zorn!“ Als die Frau das gehört hatte, ging sie unvermittelt ins Haus und kam mit einer großen Plastikschüssel wieder. „Ich habe Vollkornkekse gebacken“, sagte sie. „Bitte bedienen Sie sich! Mir geht es jetzt schon wieder viel besser.“ Wir bedankten uns für die leckeren Kekse und sagten ihr: „Sie haben uns einen tollen Start in den Tag geschenkt!“
Da nahm die Frau das Brett mit der Aufschrift „Bitte keine Gegenstände mitnehmen“ wieder von der Mauer und meinte: „Diebstahl ist wohl mein Risiko, aber ich möchte mir mein Leben nicht mit Misstrauen verderben. Ich vertraue auf Menschen wie Sie, die sich an meinem Garten freuen.“
Für mich war der Zorn der Frau eine Art heiliger Zorn, von dem in der Bibel manchmal erzählt wird. Wo Fluch und Segen zusammengehören und Leid und Freude, Wut und Besonnenheit nicht weit auseinander liegen. So ein heiliger Zorn gehört überall hin, wo Unrecht geschieht – umso besser, wenn er direkt ausgesprochen wird. Und wie wunderbar, wenn er das Leben nicht auf Dauer prägen muss. Sondern wenn er sich wie bei der Frau in Gastfreundschaft und Vertrauen verwandeln kann.