Heiligabend
Kaum ein Tag des Jahres ist so erinnerungsschwer wie der Heilige Abend. Dieser Tag weckt die Erinnerung an die eigene Kindheit wie kein anderer. Weihnachten in Ihrer Kindheit Wie war das? Ich kann mich noch gut an den Heiligen Abend erinnern als ich noch klein war– wenn auch nicht an jeden einzelnen in jedem Jahr. Da war immer etwas ähnlich oder gleich. Wir wohnten damals in einem Dorf am Rande des Rothaargebirges - meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich. Meine Mutter musste am Heiligen Abend vormittags arbeiten, sie war froh, dass sie eine Arbeitsstelle hatte. Wir waren Flüchtlinge, mein Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt, und sie musste uns irgendwie durchbringen – wie sie das nannte.
Sie war an ihrer Arbeitsstelle; mein Bruder und ich lungerten in der Wohnung herum. Wir sollten aufräumen oder sauber machen und wollten eigentlich nicht. Wozu sollten wir gerade am Heiligen Abend die Stube fegen? Das bisschen Dreck sah man in der weihnachtlichen Dunkelheit sowieso nicht. Und Spielzeug hatten wir außer ein paar Klötzchen und Metallstäben, die man zu irgendetwas zusammenbauen konnte – eigentlich nicht. „Wenn die Mama kommt, muss alles aufgeräumt sein“, das wussten wir. Dann kam meine Mutter. Die Hektik, die an ihrer Arbeitsstelle geherrscht haben muss, brachte sie mit und verbreitete sie auch weiter. „Habt ihr Holz und Kohlen aus dem Keller geholt?“ „Ist der Fußboden auch im Flur gefegt und die Treppe geputzt?“ Das hatten wir vergessen. Und dann wurde alles, was noch zu machen war, eilig angegangen. Dazu gehörte auch, die Dielen im Flur und die Treppe mit Bohnerwachs einzuschmieren und dann mit einem weichen Tuch blank zu wischen.
Das Bohnerwachs war eine Schmiere aus Fett und Bienenwachs und roch sehr gut. Die Schmiere war in einer Blechdose; die kriegte man schlecht auf, weil der Deckel zu fest darauf saß. Ein kleiner Hebel an der Seite des Deckels half, wenn man ihn vorsichtig drehte, den Deckel zu heben. Und dann passierte es: Meine Mutter schnitt sich beim hektischen Öffnen der Dose mit dem Deckel in den Finger. Irgendwie wurde die Wunde mit Pflaster zugepappt und dann ging es weiter. Bis zum Gottesdienst, in den wir immer gegangen sind, musste daheim alles fertig sein. Zum Gottesdienst eilten wir im letzten Augenblick. Die Glocken läuteten schon. Die Kirche war voll, alle Plätze besetzt. In irgendeiner Bankreihe rückten die Leute zusammen, sodass meine Mutter noch einen Platz bekam. Meinen kleineren Bruder nahm sie auf den Schoß. Der schlief beim ersten Orgelspiel ein. Ich stand an meine Mutter gelehnt und hörte die alte Geschichte vom Kind in der Krippe.
Nach der Kirche ging’s heim. Es gab etwas zu essen –meistens war es Grünkohl mit Wurst. Das war so Tradition. Und dann erzählte meine Mutter, wie sie Weihnachten als Kind erlebt hat. – in einem Bauernhof im Wartheland, eine Region im heutigen Polen. Dort haben wir gelebt, bis wir am Ende des 2. Weltkrieges flüchten mussten. Meine Mutter erzählte von der warmen Stube, in der alle zusammen waren und um den Weihnachtsbaum saßen und sangen. Draußen lag dicker Schnee und die Wölfe heulten, vor denen man die Schafe schützen musste. Irgendwie lag in ihrem Erzählen etwas Ruhiges, Gelassenes, sogar ein bisschen Heiterkeit. Die Hektik des Tages fiel dann von ihr ab und auch die elende Bohnerwachsdose war vergessen.
Heute denke ich: Wenn jemand aus seiner Kindheit, seinem Leben erzählt, dann muss man einfach zuhören. Der Heilige Abend ist ein guter Anlass dafür Er ruft Kindheitserinnerungen wach – vielleicht deshalb weil Gott in einem Kind auf die Erde kam – als Flüchtlingskind in Bethlehem damals. Vier meiner sechs Kinder – sie sind inzwischen alle erwachsen – sind heute daheim. Ich glaube, wir werden erzählen, sie aus ihren Kindertagen. Ich vielleicht aus meiner Kindheit damals irgendwo anders.