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Eine Sendung von

Pastorin im Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden, Marburg

Ein Augenblick Schönheit

Ein Augenblick Schönheit

Schon seit ewigen Zeiten klagen die Menschen darüber, dass alles vergänglich ist. „Das Leben fährt schnell dahin“, beklagt schon der neunzigste Psalm Von Mühsal ist die Rede. Das Leben erscheint fast sinnlos, weil es so schnell zu Ende geht. Es gibt Menschen, die anders mit Vergänglichkeit umgehen. Einer von ihnen ist der schottische Künstler Andy Goldsworthy. Er klagt nicht, dass alles vergänglich ist, sondern würdigt darin sogar gerade „die Schönheit des Augenblicks“. Er zeigt diese vergängliche Schönheit in seinen Kunstwerken. Sie selbst kann er nicht in ein Museum bringen, denn sie entstehen draußen in der Natur. Man nennt diese Kunst „Land-Art“, von der man wenigstens die Fotos in Ausstellungen bewundern kann.

Zum Beispiel geht der Künstler hoch oben im Norden mitten in der Nacht an einen vereisten Strand. Er wählt einen Felsbrocken und er sammelt Eiszapfen. Er bricht die Eiszapfen in fingerdicke Stücke, bearbeitet sie teilweise mit seinen Zähnen, bis sie die richtige Form, den richtigen Winkel haben. Es soll ein Bogen entstehen. Schließlich fügt er die Eiszapfen mit Speichel aneinander.  Er weiß, wenn die Sonne aufgeht, wird ihr Licht genau in diesen zarten und zerbrechlichen Eisbogen fallen. Es wird wunderschön sein. Dann wird das Sonnenlicht die Luft erwärmen und der Eisbogen wird zerfließen.

Der Künstler arbeitet auch mit Laub, das er aneinanderknüpft, und mit Strandgut, das die Wellen davontragen, wenn die Flut das Kunstwerk erreicht. Er arbeitet engagiert und ausdauernd an seinen Projekten. Oft muss er mehrere Versuche unternehmen, bis es ihm gelingt, seine Idee umzusetzen. Sein Lohn ist der Augenblick Schönheit, den er gemeinsam mit der Natur zum Leuchten bringt. Obwohl er sich so lange müht, und was er erschaffen hat, so schnell vergehen sieht, wirkt nicht sinnlos, was er tut. Seine Arbeit würdigt die natürlichen Materialien. Dieser eine Moment Schönheit genügt.

Auch Psalm 90 bleibt nicht bei der Klage stehen. Der Psalmbeter erkennt: wir Menschen brauchen Weisheit, um gut damit umzugehen, dass die Lebenszeit begrenzt ist. Er bittet Gott, ein Lehrer des Lebens zu werden, einen klugen Umgang mit der Zeit zu schenken. In meinen Augen ist der Künstler Goldsworthy ein weiser Mann, weil er mit seiner Kunst zeigt, dass die Vergänglichkeit zum Leben dazu gehört. Und dass es trotzdem Sinn macht, Energie für etwas aufzubringen, das einem wichtig ist. Auch wenn wieder vergeht, worauf ich mich eingelassen habe, wird etwas in mir bleiben, das mich beschenkt.

Der Beter von Psalm 90 bittet so: „Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade.“ Damit meint er dieses Geschenk, das in mir bleibt, auch wenn die Zeit verstreicht und der schöne Moment vergeht.

So kann ich eine Freundschaft als wertvoll erleben, auch wenn ich weiß, dass meine Freundin oder mein Freund bald umziehen wird. So kann ich ein Gespräch im Park genießen, auch wenn sich unsere Wege dann wieder trennen. In der Natur werden solche schönen Momente für mich erfahrbar, wenn die Sonne untergeht, und ich beobachte, wie ihr goldener Schein in den Blättern eines Baumes leuchtet. Wenn ich Wind spüre, oder auf Vogelstimmen höre. Mich an der Natur zu freuen, sättigt meine Seele.

Gott beschenkt mich mit der Schönheit des Augenblicks – in der Natur und zwischen Menschen. Es liegt an mir, diesen Augenblick zu würdigen.