Die Teekanne meiner Großmutter
Meine Großmutter hatte ein wunderschönes Teeservice, das ich als Kind oft bestaunte. Die Tassen waren hauchdünn, und im Boden war eine Prägung, hielt man sie gegen das Licht, konnte man das Gesicht einer Frau erkennen. Ich fand das spannend, und es verlieh dem Teetrinken etwas Geheimnisvolles. Als meine Großmutter starb, bekam ich ihr blau-weißes Porzellangeschirr. Manche Tassen hatten schon einen Sprung, der Deckel der Teekanne fehlte. Ich war ganz aufgeregt, als ich vor einigen Monaten per Zufall einen passenden Deckel in einem Teegeschäft in Frankfurt fand.
Warum ist mir die Kanne meiner Großmutter so wichtig? Ich glaube, weil sie mich daran erinnert, was sie für mich bedeutet hat. Es tat mir gut, dass sie mir viel zugetraut hat. Sie hatte einen komplizierten Charakter, war schwerhörig, melodramatisch und egozentrisch, aber in Bezug auf mich, ihre Enkeltochter, hatte sie das Herz am rechten Fleck. So war sie einmal bei einer Schulaufführung dabei, und als ich mit einer kleinen Rolle auf die Bühne kam, tuschelte sie allen Sitznachbarn zu: Das ist meine Enkeltochter! Ich fand das damals peinlich, heute freue ich mich über ihren Großmutterstolz.
Manchmal war sie anstrengend. Aber ich habe hinter ihrem schwierigen Charakter ihre liebevolle Seite entdeckt. Vielleicht gelingt das zwischen Enkeln und Großeltern leichter als zwischen Eltern und Kindern. Als sie starb, wurde mir bewusst, wie viel mich mit ihr verbindet. Zu ihren Lebzeiten war das manchmal überlagert. So wie der Tee das Gesicht der Frau im Boden der Tasse bedeckte. Manches sieht man am Ende klarer. Ich habe von ihr zum Beispiel gelernt: Man weiß auf den ersten Blick nicht alles von einem Menschen. Es lohnt sich, auf das zu warten, was sich vielleicht noch zeigen wird. Durch sie weiß ich: Auch in kantigen und komplizierten Mitmenschen kann eine zarte und verletzliche Seele wohnen.
So halte ich meine Erinnerung an meine Großmutter wie eine ganz feine Verbindung lebendig. Es macht mein Leben reich, dass ich auch dann noch das Wertvolle in mir trage, wenn der Mensch, durch den ich es erfahren habe, schon verstorben ist. Ich bin dankbar, dass es Dinge gibt, wie die Teekanne meiner Großmutter, die mich daran erinnern.