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Eine Sendung von

Pastorin im Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden, Marburg

Der alte Nachttisch

Der alte Nachttisch

Eine Freundin von mir hat einen guten Blick für Möbel. Als sie mit den Nachbarn den gemeinsamen Dachboden entrümpelte, entdeckte sie einen kleinen alten Nachttisch, der schon oft neu übermalt worden war. Er sah wirklich nicht mehr schön aus und sollte deshalb auf den Sperrmüll. Sie nahm ihn an sich. Denn sie restauriert gerne alte Möbel. Sie besorgte sich eine Schleifmaschine und Beize. Schicht für Schicht legte sie das Holz wieder frei. Von den knallbunten Farbschichten befreit, erstrahlt der kleine Schrank nun in seiner natürlichen Holz-Schönheit. Er gefällt ihr gut. Und sie freut sich auch darüber, dass sie geahnt hat, in dem Sperrmüll ein Schmuckstück zu finden.

Als angehende Schul-Sozialarbeiterin erlebt sie es bei ihren Schülern manchmal ähnlich. Manche verstecken sich, indem sie laut und schrill auftreten. Ein auffälliges Verhalten lenkt von dem eigentlichen Wesen eines jungen Menschen ab, und vielleicht wird er tatsächlich von vielen verkannt. Abgestempelt als rücksichtslos, laut und schlecht erzogen. So wie bei dem Möbelstück vom Sperrmüll: damit ist nichts anzufangen, das macht keinen guten Eindruck mehr - man sortiert es aus.

Meine Freundin möchte Schülern Räume bieten, in denen sie zeigen können, was in ihnen steckt. Sie wünscht sich für die jungen Menschen, dass sie selbst erfahren können: Sie sind  viel mehr als die Fassade, die sie aufgebaut haben. Sie möchte sehen, wie ihre eigentliche, natürliche Schönheit zum Vorschein kommt.

Bei meiner Freundin hat diese Sicht auf andere mit ihrem Glauben zu tun. Sie sagt: Ich gehe davon aus, dass ein Mensch ein wertvolles, einzigartiges Geschenk und eine gute Idee Gottes ist. Ich möchte entdecken und verstehen, was in ihm steckt. So, wie es in der Bibel heißt: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“ (1.Sam 16,7)

Ich mag es, so von Gott zu denken. Er ist an jedem Menschen interessiert. Er hat ein tiefes Verständnis dafür, wer ich bin. Die Schutzschichten, die ich im Laufe des Lebens vielleicht um mein Innerstes gelegt habe, hindern ihn nicht daran, freundlich wahrzunehmen, wer ich wirklich bin.