hr2 ZUSPRUCH
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Eine Sendung von

Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Armut ist falsch verteilter Reichtum

Armut ist falsch verteilter Reichtum

Mit der Freundin im Kino gewesen. Wir hatten uns den Film „Die Wand“ angesehen und suchten nun noch nach einer Möglichkeit, uns irgendwo beim Rotwein darüber austauschen zu können. Der Film „Die Wand“ verlangt nach Aussprache. Er erzählt von einer Frau, die sich urplötzlich als Gefangene erfährt, von unsichtbaren aber undurchdringlichen Wänden umgeben, jenseits derer alles Leben erloschen scheint. Das musste beredet werden, und ein offenes Lokal sollte sich trotz später Stunde in der Frankfurter Innenstadt doch finden lassen.

Beim Weg über die Hauptwache zum Goetheplatz stolpere ich über ein unförmiges Paket in hellem Blau, das vor der hell ausgeleuchteten Schaufensterfront am Boden liegt. Und erfasse im gleichen Moment die reale Situation: Das Paket ist ein Mensch im Schlafsack und neben ihm liegen noch ganz viele Pakete. Zehn Stück sicherlich, denn die Schaufensterfront ist lang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite das gleiche Bild: Schlafsack an Schlafsack, ein paar Habseligkeiten daneben, dann und wann ein Hund. Die Menschenbündel liegen in einer der besten Adressen Frankfurts: Top-Modeläden rechts und links, Luxushandtaschen, eine große Buchhandlung – der Kontrast ist bestürzend.

Unser Gespräch verstummt. Beschämung kriecht in mir hoch. Hilflosigkeit auch. „Mein Gott. Und wenn erst der Frost kommt…“ sagt die Freundin. Schweigend gehen wir weiter. So viele Obdachlose auf so wenigen Quadratmetern in der Bankenmetropole eines Landes, das zu den reichsten der Erde gehört. Wie kann das sein?

Armut, so hab ich neulich gelesen, ist falsch verteilter Reichtum. Das reichste Zehntel unserer Gesellschaft besitzt 63 % des Netto-Privatvermögen und wird trotz Bankenkrise und Euroturbulenzen täglich reicher. Die Hälfte der Bevölkerung aber verfügt zusammen nur über 1 % der Vermögenswerte und zahlt die Zeche, zusammen mit den übrigen, die wenigsten ein Stück vom Kuchen abbekommen haben, ein größeres oder kleineres. Diese enorme Spreizung hat das Klima in unserem Land verändert. Die Lebensstile werden einander immer unähnlicher. Die einen haben alle, die anderen fast keine Chancen. Spricht noch jemand von der Sozialbindung des Eigentums?

Wer von 374 € pro Monat leben muss, der verhungert nicht körperlich, sondern sozial. Es geht ihm wie der Frau in dem Film „Die Wand“: er ist abgeschnitten von dem, was vorher zu seinem Leben gehörte. Schon ein Kino-Besuch mit anschließendem Schoppen liegt außerhalb der Möglichkeiten. Er bewegt sich scheinbar normal und doch stößt er überall an unsichtbare Wände, die seinen Handlungsspielraum extrem einengen. Freiheit hat mehr mit Geld zu tun als manchem Bannerträger der Freiheit lieb sein mag. Und Freiheit ohne Gerechtigkeit bedroht im Kern unsere Demokratie.

Ein altes Gebot bekommt darum neue Aktualität. „Einer trage des Anderen Last“. Über einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren schallt diese Aufforderung in unsere Wirklichkeit hinein. Christen können sich daraus nicht entlassen.