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Eine Sendung von

Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz

Zeichen im Sand

Zeichen im Sand

Jesus malte im Sand. Alles stand auf dem Spiel, und er malte Figuren in den Sand. Das gibt´s doch gar nicht! So müssen es Zeitzeugen erlebt haben, die im Innenhof des Tempels in Jerusalem waren, als es um Leben und Tod ging.

Eine Frau war angeklagt, ihre Ehe gebrochen zu haben. Nach mosaischem Recht zurzeit des Neuen Testaments stand darauf die Todesstrafe. Die Juristen und Gelehrten fragten: „Was sagst du zu diesem Fall, Jesus?“ Jesus sagte nichts, malte stattdessen weiter im Sand. Irgendwelche Schriftzeichen und Symbole. Als käme aus den Figuren im Sand die Antwort. Er schaute die Schriftgelehrten nicht einmal an, beachtete auch die Angeklagte nicht und die neugierige Menge auch nicht. „Und der soll Gottes Sohn sein? Der ist ja völlig ahnungslos!“, dachten einige enttäuscht. Die Atmosphäre war bis zum Zerreißen gespannt.

Auch eine Freundin der Angeklagten war in der Menge. Sie hatte Angst, dass ihre Freundin gesteinigt wird. Sie wusste, dass der Ehemann die Freundin nicht gut behandelt hatte. Er war eifersüchtig, manchmal hatte er sie geschlagen. Kein Wunder, dass ihre Freundin aus der Ehe ausgebrochen war. Außerdem machten die Männer das doch auch immer wieder. Aber sie wurden nicht gesteinigt. Die Frau hoffte, dass Jesus etwas dagegen sagt. Aber der malte nur im Sand.

Ein Handwerker, der auch dabei stand, dachte: „Jesus muss endlich Stellung beziehen. Der Fall liegt doch eindeutig. Schließlich steht in der Bibel, dass Ehebrecher bestraft werden müssen!“

Jesus provozierte die Menge. Es musste entschieden werden. Die Frau bangte um ihr Leben, und er schien auf Zeit zu spielen. Was bezweckte er bloß mit seinen Zeichen im Sand?

Jesus machte etwas Erstaunliches: Er schrieb das festgeschriebene Gesetz symbolisch um. Schreiben im Sand wird seit alters her als Bild dafür angesehen, dass alle schriftlichen Texte vergänglich sind. Was in den Sand geschrieben wird, wird durch Wind oder Wasser oder andere Spuren verwischt. Und indem Jesus in den Sand schrieb, wies er über die schriftlich fixierten Buchstaben hinaus. „Das Gesetz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Gesetzt!“ Das hatte Jesus schon einmal gesagt, und nun bekräftigte er es. Er verweigerte sich den festgefügten Dogmen. Dann blickte Jesus endlich auf und sagte: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Wie ein Donnerschlag schlug dieser Satz im Tempel ein. Damit hatte niemand gerechnet. Jesus stellte die Frage, ob das Gesetz damals verhältnismäßig war. Und auch, ob solche Gesetze ewig gültig sind.

Damals hat niemand den ersten Stein geworfen. Die Frau war gerettet.

Jesus schaffte die Gesetze damit nicht ab. Aber er zeigte, dass Gesetze immer wieder neu eine Auslegung brauchen. Das gilt bis heute. Denn das Gesetz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Ge