„Werdepunkte“ der Reformation
Am 2. Juli 1505 wanderte ein 21jähriger Jura-Student vom thüringischen Mansfeld, wo seine Eltern wohnten, zurück in die Universitätsstadt Erfurt und geriet kurz vor Erfurt, nämlich bei dem Dorf Stotternheim in ein heftiges Gewitter.
Schutzlos sah er sich dem Toben der Elemente ausgesetzt, und als ein besonders greller Blitz unmittelbar vor ihm in den Boden schlug, bekreuzigte er sich und rief in höchsten Ängsten: Hilf Du, Heilige Anna, ich will ein Mönch werden.
Vierzehn Tage später stand der junge Mann vor der Tür des Augustinerklosters in Erfurt und begehrte Aufnahme. Seine Freunde schüttelten Kopf, sein ehrgeiziger Vater war enttäuscht. Sein Studienfach war fortan nicht mehr Jura sondern Theologie.
Die Stelle aber, wo nach Meinung der Lokalhistoriker, dieses Gelübde getan wurde, markiert seit dem 19. Jahrhundert ein großer Monolith. Auf der einen Seite wiederholt die Inschrift das Gelübde. Auf der anderen kommentiert sie es mit drei Worten. Werdepunkt der Reformation. Der junge Mann von dem hier die Rede ist, war niemand Anderes als Martin Luther.
Den Augustinermönch in Erfurt und späteren Theologie-Professor in Wittenberg, trieb Zeit seines Lebens vor allem eine Frage um: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott“.
Kaufen kann man ihn sich nicht, davon war er theologisch zutiefst überzeugt und wurde angesichts des ungezügelten Ablass-Handels seiner Kirche über dieser Frage zum Reformator und geistlichen Begründer der protestantischen Lehre. Ohne die in Stotternheim abgegebene Verpflichtung zu einem geistlichen Leben wäre er das wohl kaum geworden. Darum die Inschrift “Werdepunkt“ auf dem Lutherstein bei Stotternheim.
Ich habe diese Geschichte einem Buch entnommen, das sich in gleicher Weise als kultureller wie auch als spiritueller Reiseführer zu 50 Lutherorten in Deutschland anbietet.
Ein Kulturhistoriker (Heinz Stade), ein Theologe (Thomas A. Seidel) und ein Fotograf (Harald Wenzel-Orf) haben hier zusammengearbeitet – und was sie vor uns ausbreiten, löste bei mir nicht nur Interesse, sondern auch Beschämung aus.
Wie sträflich vernachlässigen wir, zumal im westlichen Teil Deutschlands, das eigene, reiche, kulturelle Erbe! Wie wenig weiß ich als Protestantin von den zahlreichen „Werdepunkten“ der Reformation, die nun mal in Mitteldeutschland liegen, in Thüringen, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt und nur zu einem ganz kleinen Teil in den westlichen Bundesländern.
Ich meine damit gar nicht ein Zuwenig an Denkmalschutz. Ich meine, ein Zuwenig an Erinnerung in Kopf und Herz.
Eisenach und die Wartburg, nun gut. Das ist bekannt. Aber schon bei Wittenberg habe ich meine Zweifel, ob die schöne Stadt wirklich ein Besucher-Magnet ist. Und wer kennt schon religionspolitische Bedeutung der alten Stadt Torgau?
Wer besucht Eisleben, Luthers Geburts-und Sterbestadt? Auch so eine unentdeckte Schönheit, im Range immerhin eines Weltkulturerbes. Wer steuert Grimma an, Mansfeld, Landsberg oder Altenburg?
Die neuen Länder bestehen nicht nur aus der Ostseeküste und der Mecklenburgischen Seenplatte. Es wird Zeit, dass wir den Reiz einer religionsgeschichtlichen Landeskunde entdecken. Das Buch „Unterwegs zu Luther“ ist ein wunderbarer Begleiter dazu.