hr2 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Und jedem Anfang...

Und jedem Anfang...

Heute wartet auf zahlreiche Sechs- und Siebenjährige in Hessen eine Premiere: Der erste Schultag. Die Kinder sind aufgeregt, aber auch Eltern, Großeltern und manchmal die Paten.

Bei meinem ersten Schultag bekam ich eine Schultüte in den Arm, fast so groß wie ich selbst. Zum ersten Mal so richtig den Schulranzen umgeschnallt. Das obligatorische Foto „Mein erster Schultag“ und dazu die Worte „Heute beginnt für dich der Ernst des Lebens.“ Dann ging’s los auf den Schulweg. Kribbeln im Bauch und weiche Knie: Wie wird das werden? Zum ersten Mal den Schulhof betreten, das Klassenzimmer finden, so viele unbekannte Gesichter, andere Kinder. Bekomme ich eine nette Lehrerin oder einen netten Lehrer? Gott sei Dank sind die Eltern am Anfang noch mit dabei. An deren Seite kann man getrost den Schulanfängergottesdienst erleben und sich bei der spielerischen Verkehrserziehung von einem Zebra erklären lassen, wie ein Zebrastreifen funktioniert. Doch irgendwann kommt der Moment, da gehen die Eltern und man ist auf sich allein gestellt. Man spürt einen Kloß im Hals. Jetzt bloß nicht weinen, schließlich bin ich schon groß und bleibe tapfer auf meinem Platz in der Schulbank! Hoffentlich finde ich Freunde. Hoffentlich schaffe ich das hier.

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, dichtete Hermann Hesse. Aber auch ein Schrecken, füge ich hinzu. Denn auch wenn wir längst der Schule entwachsen sind und im Leben stehen, warten immer wieder kleine und große Premieren. Morgens beim Aufstehen und sich fertig Machen wandern die Gedanken voraus zu der neuen Situation, in die man sich begeben muss – positiv gespannt darauf, was einen erwartet, aber auch mit Lampenfieber: Wie werde ich dabei abschneiden?

Solche Ängste haben auch Menschen, die legendär oder berühmt wurden. Martin zum Beispiel, von vielen als Heiliger verehrt. Der Martin, den die Kinder im November mit ihren Laternenumzügen feiern. Martin sollte Bischof von Tours werden. Der Klerus war gegen ihn, weil Martin ihm immer zu gewissenhaft, zu christlich konsequent, eben irgendwie zu heilig war. Doch das Volk wollte unbedingt ihn zum Bischof haben. Nur Martin wollte nicht. Der Legende nach verkroch er sich in einem Gänsestall. Kein so gutes Versteck, denn das Schnattern der Gänse hat ihn verraten. Er wurde entdeckt und musste sich dem Amt stellen, das man ihm angetragen hatte. Er wurde ein legendär guter Bischof.

Eine Leitungsperson, die sich im Gänsestall verkriecht. Lächerlich, könnte man denken. Doch wer hat noch nie das Verlangen verspürt, sich vor einer großen Aufgabe zu verstecken? Das muss nicht Ausdruck von Unsicherheit sein. Es zeigt den notwendigen Respekt vor einer Verantwortung. Das ist meistens besser, als loszustürmen mit einem Selbstbewusstsein à la „Ich weiß zwar nicht, wo es hingeht, aber ich bin als erster da“.

Man kann aber nicht ewig im Gänsestall bleiben. Irgendwann muss man raus und sich der Welt stellen. Das können wir auch mit dem Vertrauen, dass uns für jeden Anfang die Geistesgegenwart geschenkt wird, die wir brauchen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Und auf jedem Anfang liegt ein Segen, der uns beschützt und hilft, auf unbekanntem Terrain einen guten Weg für uns und für andere zu finden.