hr2 ZUSPRUCH
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Wöllenstein, Andrea

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Marburg

„Liegen lassen“

„Liegen lassen“

„Nein, meine Mutter hat sich gerade hingelegt“, sagt unsere Tochter am Telefon. Ich komme eben zur Tür herein nach meinem kurzen Mittagsschlaf. Fünfzehn Minuten, einmal die Augen zumachen, einmal ausstrecken, das gönne ich mir nach dem Mittagessen. Das reicht, um kurz zu entspannen. Trotzdem ist es mir peinlich, dass sie das so offen gesagt hat. Wer weiß, wer da angerufen hatte…?

„Sie hat sich hingelegt“ – wie klingt das denn? Jedenfalls nicht nach Stärke und Kompetenz. Im Gegenteil. Liegen hat in unserem Denken mit Schwäche zu tun, mit Niederlage. Wer herumliegt, ist faul. Und wer möchte schon unter-legen sein? Kennzeichen menschlicher Würde ist der aufrechte Gang. Das unterscheidet uns von den Tieren. Eltern sind stolz, wenn ihr Kind lernt, auf eigenen Beinen zu stehen, wenn es die ersten Schritte macht auf eigenen Füßen. Später lernen wir, standhaft zu sein, unseren Mann / unsere Frau zu stehen. Aufrecht sollen wir durchs Leben zu gehen und anständig. Stehvermögen entwickeln, durchstehen, was uns aufgetragen ist. Und merken nur allzu oft, wie anstrengend das werden kann, dieses Stehen und Durchstehen müssen. Der Rücken verspannt sich, die Knie tun weh und der Kopf, der immer oben bleiben soll.

Von Fredrik Vahle, dem Kinderliedermacher, gibt es ein wunderschönes Buch mit dem Titel „Liegen lassen – Einladung zu einer naheliegenden Entdeckung“. Liegen, so schreibt er, ist keine Schwäche, derer man sich schämen muss. Er spricht vom „Wunder des Liegens“, von einer „saumseligen Erfahrung“. „Ich lasse in gewisser Weise Körper und Seele hinter mir“ schreibt er, „und dabei stellt sich wie von selbst eine (neue) Einheit von Körper und Seele her“ (S. 36) Vahle berichtet von berühmten Dichterinnen und Dichtern, die ihre besten Ideen im Liegen hatte. Was ich von meinem Mittagsschlaf durchaus bestätigen kann…

Auch das gute Stehen kommt aus dem Liegen. Wir erleben das Getragen- und Unterstützt sein vom Boden. Im Liegen kann ich über den Körper erfahren, was auch der Seele gut tut: Loszulassen, mich und meine Pläne, meine Sorgen und Ängste.

Vertrauen einüben, mich in Gottes Hand legen, die wie der Boden ist, der mich trägt und unterstützt.

Wann ist dazu eine bessere Gelegenheit als am Wochenende? Wo ich es mir vielleicht eher als sonst leisten kann, etwas liegen zu lassen: Auch mich selber zu legen. Die Seele liegen lassen. Entspannen, tun, was mir gut tut.

Fredrik Vahle stellt in seinem Buch verschiedene Persönlichkeiten in einer „Galerie der Liegenden“ vor. Einen würde ich dieser Galerie gerne noch hinzufügen. Die Bibel erzählt von ihm. In der Weihnachtsgeschichte. Denn da heißt es: „Sie kamen und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in einer Krippe liegen“. Gott wird Mensch und liegt in einer Krippe. Nicht nur von einem liebenden Gott erzählt das Evangelium, sondern auch von einem liegenden. Wenn das keine Erlaubnis ist, dass ich mich hinlegen darf als Ebenbild Gottes! Zu einem kleinen Mittagsschlaf oder zu einem ganzen faulen Wochenende – ohne schlechtes Gewissen!